Die Tourismus-Branche – ein Leckerbissen für die Mafien

Roberto Saviano, Autor und Journalist, bekannt geworden durch sein Buch „Gomorrha“ (2006) schlägt Alarm (1)

„Die Organisierte Kriminalität  schluckt buchstäblich ganz Italien!.  Und das geschieht nicht nur in Italien … und keiner spricht darüber!“

Und er fährt fort: Wer kauft die Restaurants, die Pleite gehen? Die Bars, die Hotels, die Pleite gehen? Von allen Seiten gibt es Beweise! Das Kredithai-Unwesen, das von den Mafien koordiniert wird, galoppiert geradezu durch unser Land. Sie schlucken einfach alles. Und das passiert nicht nur bei uns, aufgepasst! Die russischen Kartelle kaufen im Süden Spaniens den ganzen touristischen Sektor auf, der vor dem Kollaps steht, Vergleichbares passiert in Südfrankreich. Das Phänomen hat sich auf ganz Europa ausgedehnt. Wie ist das möglich, dass es zu diesem Thema keine zentrale Debatte gibt? Ich habe die Betroffenen aufgefordert – denn an mich schreiben sie – an die Öffentlichkeit zu gehen.

Bei allen tauchten Leute auf – Und was für Leute? Vertreter von Unternehmen, Unternehmen mit Sitz in Luxemburg, in Zypern, in Andorra, Unternehmen, von denen bisher keiner jemals etwas gehört hat, also gehören sie offensichtlich nicht zum Tourismus-Sektor. Und diese Unternehmen bieten Cash – Cash, sofort auf die Hand! Und dann bestätigt sich der Verdacht:  Übergabe der Geschäftsleitung??? Nein, auf keinen Fall, Ihr bleibt Geschäftsleitung, ihr macht weiter wie bisher! Denn es ist genau das, was sie wollen: In den Augen der Öffentlichkeit scheint sich nichts zu ändern, alles bleibt angeblich so, wie es ist!

(1) ) im Gespräch mit dem La7-Moderator Giovanni Floris in der Sendung „Di MartedÌ“ (= dienstags)

 

Wenn die Leute sich nicht mehr zu Komplizen der Mafiosi machen…

In Borgo Vecchio, einem Stadtviertel von Palermo, versucht ein Boss die Mafia neu aufzustellen. Zu seinen Maßnahmen gehört auch die Neuorganisation der Schutzgelderpressung. Doch vierzehn Geschäftsleute entschließen sich, dies bei den Carabinieri anzuzeigen. Es werden 20 mutmaßliche Schutzgelderpresser festgenommen. Der Carabinieri-General bedankt sich bei den Kaufleuten, dass sie sich an die Justiz gewendet haben und drückt seinen Respekt vor ihnen aus, indem er die Mütze abnimmt.

Bei der Vorbereitung der Festnahmen hört die Polizei viele Gespräche ab: Ein Mafioso z.B. beklagt sich über die Leute von heute: „Es ist nicht mehr so wie früher! Die Leute spielen jetzt alle Polizisten!“ Ein anderer rät einem Kumpel, sich auf den Arm das Bild von Giovanni Falcone und Paolo Borsellino tätowieren zu lassen. „Dann hören die Probleme auf“.

Höchst interessant ist aber der Dialog zwischen einem Unternehmer und dem Schutzgelderpresser, den der Unternehmer mit seinem Handy aufgenommen hat:

U= Unternehmer E=Erpresser

E: Ein kleines Geschenk! Wir organisieren jedes Jahr das Fest (der Patronin des Viertels), 2000 Euro!

U: Was soll ich machen? Ich hab‘ Sie nicht verstanden.

E: Haben Sie nie ähnliche Probleme gehabt? Woher kommen Sie?

U: Ich bin von hier, aus Palermo. Was soll ich machen? Was wollen Sie von mir?

E: Du nimmst einfach einen 500 Euroschein und gibst ihn mir für das Fest. Und du hast deine Ruhe und niemand stört dich mehr.

U: Das nennt man „pizzo“ – Schutzgeld!

E: Neeeein, wenn ich Schutzgeld verlangen würde, würde ich einen Prozentsatz auf Ihre Einkünfte verlangen.

U: Ich zeig‘ Ihnen eine Liste ….  Das sind Falcone und Borsellino. Wer schweigt und sich beugt, stirbt jedes Mal, wenn er das macht. Wer spricht und mit erhobenem Kopf geht, stirbt nur ein einziges Mal.

E: Und die Moral von der Geschichte, welche soll das sein?

U: Dass dies hier alles Opfer der Mafia sind (er zeigt ihm ein Blatt mit den „Märtyrern der Mafia“). Und das hier ist Mafia! Sie sollten sich wenigstens ein bisschen schämen für das, was sie von mir wollen! Da, nehmen Sie und studieren Sie sie. Das können Sie behalten, es sind alles Opfer der Mafia. Behalten Sie das, denn Sie sollten sich damit beschäftigen! Sie sollten sich wirklich schämen, Schutzgeld zu verlangen.

E: Ich verlange kein Schutzgeld…

U: Was dann?

E: Nur einen Beitrag für das Fest

U: Was, ein Fest? Dir zeig‘ ich’s!

Geschlossen wegen Schutzgelderpressung!

Italien: Geschichte der sog. „Prima Repubblica“(1948-1994) – im Licht der Gerichtsurteile

Manipulation

Ilfattoquotidiano.it

Leicht gekürzter Vortrag von Roberto Scarpinato, Generalstaatsanwalt von Palermo, gehalten am 6.9.2020 anlässlich des jährlichen Kongresses der Zeitung „Il fatto quotidiano“.

Der Vortrag erfolgte im Rahmen der Vorstellung des neuen Buches von Antonio Padellaro: „Das Attentat und das Wunder“, in dem der Autor untersucht, weshalb das von der Mafia vorbereitete Attentat auf das Olympia-Stadion in Rom (23.1.1994) gescheitert ist. Überschriften von mir eingefügt.

Die Anfänge

Giovanni Falcone verwendete den Ausdruck „il gioco grande“, das große Spiel, wenn er vom Kampf um die Macht sprach. Ein Spiel, das in Italien ohne Unterbrechung mit Attentaten und mit Morden gespielt wurde. Der Anschlag auf das Olympia-Stadion sollte das Ende der 1. Republik besiegeln, die enden sollte so wie sie begonnen hatte: mit Blutvergießen. Das erste Attentat, das auf das Konto von Mafia und Staatsvertretern geht, ist das Massaker von Portella della Ginestra am 1. Mai 1947 mit 11 Toten und 27 Schwerverletzten. Die Linke hatte in Sizilien die Regionalwahlen gewonnen, und das feierte man in Piana degli Albanesi, Provinz Palermo. Die Politik findet sofort einen Schuldigen: Salvatore Giuliano und seine Bande (1). Wer nicht sofort verstanden hatte, dass hier die Politik mitverantwortlich war, der konnte es im Lauf weniger Monate verstehen, nachdem mehrere Anschläge mit Maschinengewehren und Bomben auf die Parteibüros erfolgt waren. Man wollte verhindern, dass sich ein Sieg der Linken bei den bevorstehenden Wahlen auf nationaler Ebene wiederholte.

Die Manipulation von Ermittlungen und Prozessen

In keinem anderen europäischen Land hat es eine solche Geschichte von politisch motivierten Attentaten gegeben: Mailand 1969, Peteano 1972, Brescia, Italicus, Bologna usw. bis zu den Anschlägen von `92-`93. All diese Attentate haben einen gemeinsamen Nenner: Die Manipulation der Ermittlungen durch die Geheimdienste mit verschiedenen Techniken: Verschwindenlassen wichtiger Dokumente, von Tatortspuren, die Konstruktion falscher Ermittlungsansätze, die Konstruktion eines falschen Kronzeugen.

Wozu manipuliert man Ermittlungen? Um eine Wahrheit zu verbergen, die man nicht eingestehen kann. Um die Auftraggeber aus der Politik zu schützen, letztendlich um den politischen Zweck zu verheimlichen, der ein anderer ist als der offensichtliche Zweck. All dies trifft auch auf die Anschläge von `92/`93 zu: Es verschwinden essentielle Dokumente. Im Januar `93 wird Riina verhaftet. Als die Durchsuchung seines Verstecks beginnen soll, interveniert der Carabinieri-General Mario Mori: „Es wäre verrückt, die Wohnung sofort zu durchsuchen. Sicherlich kommen bald Bagarella und die anderen Bosse, um die Wohnung leerzuräumen, und dann schnappen wir sie.“(2) Tatsächlich kommen Bagarella und die anderen Bosse und räumen alles leer, natürlich auch den Tresor mit den Dokumenten, sogar die Wände sind frisch gestrichen, um keine DNA-Spuren zu hinterlassen – nur: die Festnahme findet nicht statt.

Die nächste spektakuläre Manipulation ist der Diebstahl des roten Notizbuchs von Paolo Borsellino. Wenige Sekunden nach der Bombenexplosion, zu einem Zeitpunkt, als die Polizei noch nicht einmal sagen kann, was eigentlich passiert ist, sind Geheimdienstleute vor Ort. Sie scheren sich nicht um Tote oder Verletzte, sondern nehmen aus Borsellinos Wagen die Aktentasche mit dem roten Notizbuch (3). Die Aktentasche wird später wieder im ausgebrannten Wagen gefunden, aber ohne das Notizbuch. (4)

Aber das ist nicht alles: In Hinterzimmern wurde ein falscher Kronzeuge konstruiert, Vincenzo Scarantino, der die italienische Justiz jahrelang in die Irre geführt hat, damit die Wahrheit über den Anschlag auf Borsellino ja nicht ans Licht kam. (5)

Und es gibt weitere Beispiele für Manipulationen: z.B. die Ermordung von Bossen, die mit der Justiz zusammenarbeiten und über die Hintermänner in der Politik aussagen wollten, wie Luigi Ilardo oder Antonino Gioè, und sie sind nicht die einzigen!

Weshalb werden Ermittlungen zu Mafia-Attentaten manipuliert?

Eben weil nicht nur Mafiosi dafür verantwortlich sind, sondern weil es da auch andere Schuldige gibt. Es soll unbedingt verhindert werden, dass die Ermittlungen über die Ebene der Cosa Nostra hinausgehen, die die Attentate durchgeführt hat. Aber was steht hinter den Attentaten von 1992 und `93? Klar, da ist die bewaffnete Hand der Mafia, aber da sind auch andere Subjekte aus dem Staat am Werk, die durch die von der Mafia ausgeführten Anschläge eine Destabilisierung der politischen Lage erreichen wollen, um ein Ereignis zu verhindern, das man für ungeheuer wichtig hielt: Das italienische Machtsystem, das während der ganzen 1. Republik im Kontext des Antikommunismus und des internationalen Bipolarismus Straflosigkeit garantierte, und zwar nicht nur für die Mafia, sondern auch für Mitglieder der Geheimloge P2 von Licio Gelli, für Lobbys, für Personen im Staat, die in der Vergangenheit für die Manipulationen gesorgt hatten – jetzt, da das alte System am Zusammenbrechen ist, da sehen all diese Leute ein gemeinsames Schicksal vor sich: Sie befürchten, Parteien der Linken könnten an die Regierung kommen, und das würde bedeuten, dass man mit der Vergangenheit abrechnet und dass es nicht nur das Ende von Totò Riina sein würde, sondern auch das Ende für die Leute der P2, für die Leute von „Gladio“ (6) usw. Und so entdeckt man ein gemeinsames Interesse: eine Hardware von Seiten der Mafia und eine Software von Seiten der Destabilisierungs-Spezialisten und den Experten für die Massenkommunikation, die die zeitliche Abfolge der Attentate und die zu treffenden Orte vorgeben.

Der politische Zweck der Attentate muss geheim bleiben

Dieser politische Zweck wird den meisten Mafiabossen verheimlicht, davon wissen nur Riina, Graviano, Matteo Messina Denaro, Bagarella und andere Bosse, die sich im November 1991 in Enna treffen. Dort wird die Destabilisierungs-Strategie beschlossen, die in zwei Phasen erfolgen soll: zuerst die Phase der Attentate, zu denen sich eine Organisation mit dem Namen „Falange armata“ (7) bekennen soll. Damit sollte ein kollektives Misstrauen in den Staat geschürt werden, den bisherigen Institutionen sollte ihre Legitimität abgesprochen werden. Auf diese Weise sollte der Weg bereitet werden für eine neue politische Kraft, die gerade im Entstehen war und die dann den am Boden liegenden Staat wieder aufrichten und die Regierung übernehmen würde. Und tatsächlich ruft Riina einen Monat später alle Bosse zusammen, spricht von der Rache an Falcone und Borsellino, von der Bestrafung der Politiker, die ihre Versprechen nicht gehalten haben, aber über alles, was in Enna besprochen worden war, sagt er kein Wort. Riina erklärt auch nicht, weshalb Falcone, der zunächst in Rom hätte ermordet werden sollen, weil er dort ohne Leibwächter unterwegs war, jetzt plötzlich in Sizilien sterben soll, unter Umständen, die höchst spezielle technische Kenntnisse verlangten, die das Risiko eines Misslingens mit sich brachten, und er erklärt nicht, weshalb der Anschlag auf Borsellino auf Juli vorverlegt werden soll. Und in der Tat handelte es sich um ein völlig irrationales Vorhaben und total kontraproduktiv für die Interessen der Cosa Nostra: im Juni`92 hatte das Parlament über das sog. Dekret Falcone abgestimmt, das die Einführung der Isolationshaft (der sog. 41bis) auch für Mafiabosse vorsah, und das bis zum 9. August vom Parlament in ein Gesetz umgewandelt werden musste. Und während vor der Ermordung Borsellinos eine Mehrheit von Abgeordneten dieses Gesetz ablehnen wollte – nach dem Attentat am 19. Juli stimmte dann die Mehrheit dafür. Raffaele Ganci, einer der engsten Vertrauten von Riina sagte dazu: „Der (Riina) ist komplett verrückt geworden“. Und Salvatore Cancemi, ein anderer Boss, sagte: „Er verfolgt damit die Interessen anderer. Jetzt Borsellino zu ermorden, ist nicht in unserem Interesse.“

Die Attentate auf dem Festland

Der Höhepunkt der Attentats-Strategie erfolgt nicht zufällig dann, als die Regierung Ciampi das Vertrauen erhält. Die „technische“ Regierung Ciampi ist gedacht als Probelauf einer zukünftigen Regierung der Linken, denn sie ist die erste Regierung, in der drei ehemalige Kommunisten einen Ministerposten innehaben. Das erste Attentat auf dem Festland erfolgt drei Tage nach der Wahl der Regierung Ciampi, im Mai 1993, dann kommt das Attentat von Florenz, dann der Versuch eines Anschlags 100m entfernt von Palazzo Chigi, an den sich praktisch niemand erinnert. In einer kleinen Straße, durch die Ciampi gehen muss, um in sein Büro zu kommen, wird ein mit Dynamit beladenes Auto gefunden. Kein einziger Kronzeuge konnte bisher dazu etwas sagen. Wer ist also dafür verantwortlich? Dann, am 27.7.1993, die Anschläge von Mailand und Rom. Ciampi versteht, dass da ein Staatsstreich vorbereitet wird. Dann gibt es einen Blackout, der alle Telefone der Regierung mehrere Stunden lang lahmlegt und von der Außenwelt isoliert. Man entdeckt, der Stromausfall wurde von einer externen Telefonzentrale ausgelöst, aus einem Gebäude, in dem auch der Sismi ein Büro hat (8). Ciampi macht darauf einen bedeutungsvollen Schritt: Er lässt alle Spitzenleute der Geheimdienste von ihren Posten entfernen, der Verteidigungsminister sorgt für eine Säuberung im Sismi, die 300 Leute betrifft, Admiral Fulci, verantwortlich für die Kontrolle der Geheimdienste, führt eine interne Untersuchung des Sismi durch und stellt fest, dass alle Anrufe, mit denen die „Falange armata“ sich zu den Mafia-Attentaten bekannt hat, aus den außerhalb gelegenen Zentren des Sismi kamen.

Der missglückte Anschlag auf das Olympia-Stadion in Rom

Genau zu dieser Zeit beginnen die Vorbereitungen zum Anschlag auf das Olympia-Stadion, es sollte ja der Gnadenstoß sein, den man dem politischen System verpassen wollte. Es werden Vor-Ort-Besichtigungen durchgeführt. Der neue Stern am Himmel der italienischen Politik befindet sich in der Phase weit fortgeschrittener Vorbereitungen. Doch der Anschlag gelingt nicht. Die Fernbedienung versagt. – Zufall? Padellaro liefert in seinem Buch eine interessante Hypothese: Vielleicht habe ja jemand entschieden, dass sich Graviano mit dem geplanten Anschlag, bei dem Hunderte von Opfern eingerechnet waren, darunter 100 Carabinieri, zu weit vorgewagt hatte, und dass dieses Attentat eben nicht stattfinden sollte. Wenige Tage später, am 27. Januar `94, wird er verhaftet. Einen Tag vorher, am 26. Januar, wird im Fernsehen die Ankunft des neuen Politikers verkündet.

Resümee

Die italienische Öffentlichkeit glaubt, die Serie von Attentaten gehe auf das Konto der üblichen Super-Kriminellen, ob sie Riina oder Provenzano heißen, Leute, die sich auf Italienisch kaum äußern können. Und was wird man in den Geschichtsbüchern lesen? Scarpinato zitiert Balzac: Es gibt zwei Arten von Geschichte. Die erste ist die Geschichte in den Schulbüchern, die stets voller Lügen ist. Die zweite, die tatsächliche Geschichte, ist die, die man nicht erzählen kann, weil sie die politische Macht, die kriminelle Seite der politischen Macht, mit zur Verantwortung zieht. Und was das betrifft, nimmt Italien in Europa den ersten Platz ein. In keinem anderen europäischen Land hat es eine solche Serie von blutigen Attentaten gegeben. Dazu kommt noch die Reihe von Morden an hochrangigen Persönlichkeiten, eine Serie von rätselhaften Selbstmorden. Buchstäblich ein Völkermord, begangen von Mitgliedern einer Führungsschicht, die im Machtspiel systematisch Gewalt eingesetzt hat. Und dieses „große Spiel“, wie Falcone sagt, wird einem großen Teil der italienischen Bevölkerung unbekannt bleiben. Denn auch das Wissen ist beileibe nicht unschuldig, die Konstruktion von Wissen war schon immer Spielplatz für den Kampf um die Macht. Einer der größten Intellektuellen des Westens, der Kardinal Giulio Mazzarino, erinnerte den französischen König immer daran: „Majestät, die Macht erringt man mit Schwertern und Kanonen, man behält sie mit Dogmen und dem Aberglauben.“ Die Verdrehungen und Verfälschungen, was die Macht der Mafia und die großen Verbrechen der italienischen Politik betrifft, – das ist ein Feld, auf dem wir heute leider noch die Verlierer sind.

  1. Salvatore Giuliano: sizilianischer Bandit und Separatist
  2. Im Prozess wurden Mori und der Mitangeklagte freigesprochen, weil die Nichtdurchführung einer Hausdurchsuchung kein strafbares Vergehen sei, allerdings wurde Mori im Prozess zur Trattativa Stato-Mafia in erster Instanz 2018 wegen Erpressung eines staatlichen Gremiums schuldig gesprochen.
  3. Im roten Notizbuch notierte sich der Richter alles, was ihm wichtig erschien, er war nie ohne es unterwegs.
  4. Alles nachzulesen im Urteil zum 4. Prozess Borsellino.
  5. Auf Grund der Aussagen von Scarantino wanderten die falschen Leute ins Gefängnis, so dass der Prozess revidiert und die unschuldig Inhaftierten entschädigt werden mussten.
  6. Eine stay-behind-Organisation, die im Falle eines Einmarsches der Truppen des Warschauer Paktes Guerilla-Operationen und Sabotage-Akte durchführen sollte. Sie ist entstanden aus dem italienischen militärischen Geheimdienst der Nachkriegszeit und dem CIA.
  7. Italienische Terrororganisation
  8. Militärischer Geheimdienst

Der falsche Kronzeuge zum Attentat auf Borsellino, Vincenzo Scarantino

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Italien: Piera Aiello verlässt aus Protest die Fünf Sterne

Piera Aiello aus Partanna (Provinz Trapani)
in Sizilien ist die erste Kronzeugin, die 2018 auf einer Liste der Fünf-Sterne-Bewegung ins Parlament gewählt wurde. Sie arbeitete in der nationalen parlamentarischen Antimafia-Kommission und in der Justiz-Kommission, deren Aufgabe es ist, alle vom Justizminister Bonafede und seinem Büro formulierten Gesetze zu überprüfen, mögliche Bedenken zu formulieren und Verbesserungsvorschläge zu machen. „Aber nach Monaten und Monaten der Schein-Debatten “, so Aiello, „bleibt von der geleisteten Arbeit nichts übrig. Es entscheidet immer der Justizminister, und – ich bin sicher – er entscheidet nicht autonom, denn 90% der Vorschläge werden dann verworfen, und das oft ohne eine sinnvolle Begründung.“ Sie verlässt jetzt deshalb die Fünf Sterne, ihre Arbeit in Kommissionen und Parlament wird sie jedoch fortsetzen.

Wer ist Piera Aiello? Weshalb findet ihr Austritt aus der Bewegung einen solchen Widerhall in den Medien?

Sie ist eine Symbolfigur der Antimafia:

Mit 18 Jahren wird sie gezwungen, den Mafioso Nicola Atria aus Partanna (Provinz Trapani) zu heiraten. Ihr Schwiegervater Vito Atria wird nur wenige Tage nach ihrer Hochzeit in einer Auseinandersetzung mit den Corleonesi ermordet. Das gleiche Schicksal erleidet 1991 ihr Mann, der vor ihren Augen umgebracht wird. Piera, die nie die Lebenseinstellung ihres Mannes geteilt hat, beschließt nun, sich an die Justiz zu wenden und lernt so auch den Richter Paolo Borsellino kennen. Sie muss deshalb Sizilien verlassen und lebt unter anderem Namen in Rom. Kurz darauf folgt ihr ihre Schwägerin Rita Atria, die ebenfalls beschließt, ihr Wissen der Justiz zur Verfügung zu stellen, um sich an den Mördern ihres Vaters und ihres Bruders zu rächen. Durch die Aussagen der beiden jungen Frauen kann zahlreichen Mafiosi der Prozess gemacht werden. Pieras Schwägerin Rita begeht 1992 nach der Ermordung des Richters Borsellino in Rom Selbstmord, Piera selber lebt mit ihrer Tochter mit ihrer neuen Identität im Verborgenen bis zu den Wahlen 2018. Sie kandidiert im Territorium von Messina Denaro für die 5Sterne, von denen sie sich eine ernsthafte Antimafia-Arbeit verspricht. Erst im Juni des Wahljahres beschließt sie, sich zu ihrer wahren Identität und zu ihrem Gesicht zu bekennen.

Jetzt ist sie aus den 5Sternen ausgetreten, aus Protest gegen die Arbeit des Justizministers Bonafede. „Zu lebenslanger Isolationshaft verurteilte Mafiosi schickt er mit einer simplen Email, einem Rundschreiben an alle Haftanstalten in den Hausarrest!“ empört sie sich. „Natürlich ist auch für mich das Recht auf körperliche Unversehrtheit sakrosankt, aber genauso wie das Gesetz bei Totò Riina umgesetzt wurde, der bis zum letzten seiner Tage im Gefängnis medizinisch betreut und behandelt wurde, genauso hätten jetzt die anderen Mafiabosse behandelt werden müssen. (…) Wie kann ein Bürger dem Staat vertrauen, wenn vom Staat seine Sicherheit aufs Spiel gesetzt wird? Wie sollen sich Kronzeugen sicher fühlen vor Kriminellen, zu deren Verhaftung sie beigetragen haben? Und diejenigen, die vorhaben mit der Justiz zusammenzuarbeiten, wie sollen sie das nötige Vertrauen in einen Staat aufbringen, der keine eindeutige Haltung im Umgang mit Mafiosi einnimmt, indem er wirksame Strafen vorsieht für Leute, deren Hände mit Blut beschmiert sind?

Piera Aiello verlässt die Fünf-Sterne-Bewegung: „Die Antimafia-Arbeit – zunichte gemacht von unfähigen Leuten“. Ein vergifteter Abschied der Abgeordneten und Kronzeugin. „Ich möchte nicht zur Komplizin der Fehler werden, die die Fünf Sterne begangen haben.“

 

Film im Kino: Marco Bellocchio – Als Kronzeuge gegen die Cosa Nostra

Anmerkung zu den Filmkritiken

Seit 14.8. wird in den Kinos Marco Bellocchios Film über den ersten Kronzeugen gegen Cosa Nostra, Tommaso Buscetta, gezeigt. Ich finde ihn sehenswert.

Verschiedene Kritiken finden sich im Netz. Hier soll deshalb nur eine Anmerkung gemacht werden zu den Filmszenen, die sich in der Aula Bunker während der Maxiprozesse in Palermo abgespielt haben.

Es handelt sich um Szenen, wie sie sich in der Realität zugetragen haben. Es ist keine Interpretation des Regisseurs, der zeigen möchte, was für lächerliche Existenzen Mafiabosse sind. Die Mafiabosse, die vor Gericht absurde Theaterszenen aufführen, das von ihnen provozierte Chaos, all das ist so abgelaufen (Zu sehen im Video „La mattanza“ von Carlo Lucarelli:

 

 ab 51.55) und diente dazu, dem Gericht die Verachtung und die Siegesgewissheit der Cosa Nostra zu demonstrieren.

In Italien wird ein Urteil erst nach der dritten Instanz rechtskräftig. Und Cosa Nostra hatte im Kassationsgericht (dritte und letzte Instanz) ihren Mann sitzen, den Richter Corrado Carnevale, der bei Mafiaprozessen letztlich „alles in Ordnung“ brachte. Er fand stets einen Grund, einen Freispruch durchzusetzen und bekam deshalb von den Medien den Spitznamen „ammazzasentenze“ (Urteilskiller). Die Mafiabosse im Gerichtssaal gehen also davon aus, am Ende straflos wie bisher davonzukommen. Kronzeugen sagen aus, dass der Boss der Bosse, Totò Riina, und die gesamte Cosa Nostra gespannt auf den Urteilsspruch der 3. Instanz warteten, in der Annahme, es werde wieder lauter Freisprüche geben. Dem war aber nicht so, denn Giovanni Falcone, der inzwischen von Palermo nach Rom ins Justizministerium gewechselt hatte konnte der quasi garantierten Straflosigkeit der Mafia ein Ende setzen: Bisher waren die Mafia-Urteile stets in derselben Sektion des Kassationsgerichts und beim immer gleichen Richter gelandet: auf dem Schreibtisch von Carnevale. Falcone sorgte für eine neue Regelung, ein rotierendes System. Und so wurden am 30. Januar 1992 die meisten Urteile der vorausgegangenen Instanzen bestätigt, darunter 19 Mal lebenslänglich, ein Urteil, das Mafiosi sich bisher nicht in ihren schlimmsten Träumen hätten vorstellen können.

Weshalb Giovanni Falcone mit seiner Frau und seinen Personenschützern von Cosa Nostra am 23. Mai 1992 bei Capaci in die Luft gesprengt wurde, wird bis heute diskutiert. Ein Grund ist sicherlich die Rache für die Urteile des Maxiprozesses. Unmittelbar nach diesem Attentat auf Falcone begannen Vertreter der italienischen Institutionen Verhandlungen mit der Mafia aufzunehmen, angeblich, um die Serie der blutigen Attentate zu beenden. Es existiert eine Forderungsliste von Totò Riina, das sog. papello, in dem vor allem eine Revision des Maxiprozesses, Abschaffung des Urteils lebenslänglich und andere Antimafia-Gesetze aufgeführt sind. Die Authentizität des papello ist aber umstritten und deshalb wurde es im Prozess zu den Verhandlungen zwischen Staat und Mafia (processo sulla trattativa) im Urteil nicht als Beweis aufgeführt.

Aula Bunker im Gefängnis Ucciardone/ von Petra Reski;    Bild rechts/  „das sog. papello“
                   

Italienischer Fernsehjournalist erhält Personenschutz

Massimo Giletti, Moderator der La7-Sendung
„Non è l’Arena“, hat von April bis Juli diesen Jahres in mehreren Sendungen heikle Themen angesprochen. Dem Mafiaboss Filippo Graviano, der wegen der Attentate von 1992-93 eine lebenslängliche Haftstrafe absitzt, gefielen diese Themen überhaupt nicht, und so sagte er am 11. Mai mit erhobener Stimme während seines Freigangs zu einem `ndrangheta-Mafioso: „Der (Justiz-) Minister Bonafede macht einfach seine Arbeit – aber der Typ da, Giletti, und der andere Typ da, Di Matteo, die gehen mir auf die …..“ Wegen der geäußerten Drohungen hat nun die Präfektur von Rom Personenschutz für Giletti angeordnet, der Antimafia-Richter Di Matteo lebt schon seit Jahren mit der höchstmöglichen Zahl an Leibwächtern.

Die Themen, die das Missfallen Gravianos erweckten, betrafen zunächst einmal die – offenbar von der Mafia koordinierten – Gefängnisrevolten im März, am Beginn des Lockdowns. Und dann – alle richteten den Blick auf das Virus – sickerte durch, dass verschiedene Mafiabosse und hochkarätige Kriminelle aus dem Gefängnis in den Hausarrest entlassen wurden unter dem Vorwand, nur so könne man sie vor einer Virusinfektion schützen und das Recht auf körperliche Unversehrtheit sei von der italienischen Verfassung garantiert. Diese Vorgänge waren Giletti ebenfalls einer genaueren Untersuchung wert und er rekonstruierte präzise mit entsprechenden offiziellen Dokumenten Schritt für Schritt den Gang der Ereignisse. So wurde offensichtlich, dass die italienische Gefängnisbehörde Dap mit der Situation von Corona-Krise plus Gefängnisrevolten plus mehreren Hundert Anträgen von Verteidigern auf Haftentlassung völlig überfordert war. Ein Gast im Studio, der jetzige Bürgermeister von Neapel De Magistris, stellte dann die Frage, wieso eigentlich der Justizminister Bonafede im Sommer 2018 dem Antimafia-Richter Di Matteo das Angebot gemacht hatte, Leiter des Dap zu werden und vierundzwanzig Stunden später das Angebot wieder zurückzog. Mit Di Matteo an der Spitze des Dap, so der Tenor der Aussagen im Studio, wäre das alles nicht möglich gewesen. Da der Justizminister eine konkrete Antwort auf die gestellte Frage sowohl in der Sendung als auch anschließend im Parlament verweigerte, erfolgten 1. Der Rücktritt des bisherigen Direktors des Dap, 2. zwei erfolglose Misstrauensvoten gegen den Justizminister von Seiten der Opposition, 3. weitere Rücktritte im Umkreis des Dap und die Ernennung zweier Antimafia-Richter zur neuen Leitung der Gefängnisbehörde. 4. Außerdem verfasste Bonafede ein neues Gesetz, mit dessen Hilfe verschiedene zuvor in den Hausarrest entlassene Häftlinge wieder zurück in die Haftanstalt geschickt wurden.

Interessant ist auch, wie Gravianos Drohungen gegen den Journalisten und den Antimafia-Richter bekannt geworden sind: Wieder einmal erschien in offiziellen Medien – nichts! (Der Journalist Saverio Lodato von Antimafiaduemila veröffentlicht deshalb am 10.8. einen Artikel: „Da niemand darüber schreibt, schreiben eben wir darüber!“) Anfang, Mitte Juli stellte der Journalist Abbate in Sizilien sein neues Buch über Matteo Messina Denaro „U siccu“ vor, in dem auch ein Bericht der Gefängnispolizei erwähnt wird, der Gravianos Drohungen zitiert. Nur über diese Buchvorstellung wurden die Öffentlichkeit und Giletti selber informiert.

Im Interview beklagt sich nun Giletti, dass ihn von staatlicher Seite niemand über die Drohungen an seine Adresse informiert hat und dass der Justizminister Bonafede (Fünf-Sterne-Bewegung) nach Bekanntwerden der Drohungen gegen ihn und Di Matteo, sich nicht sofort von diesen Äußerungen des Mafiabosses öffentlich distanziert hat. Offenbar hat der Minister Giletti privat angerufen, um ihm seine Solidarität auszudrücken, eine offizielle Stellungnahme der Regierungspartei Fünf-Sterne oder des zuständigen Ministers aber ist nicht erfolgt. Das ist laut Giletti ein gravierendes Versäumnis, und man kann ihm da nur beipflichten.

Außerdem hätte man sich ja auch vorstellen können, dass ein Justizminister sich davon distanziert, ein ausdrückliches Lob für seine Tätigkeit von einem hochrangigen Mitglied der Cosa Nostra erhalten zu haben….Ifattoquotidiano.it

Giovanni Falcones Lehren zum Kampf gegen die Mafia sind nach wie vor gültig

Nando dalla Chiesa*:
Auch 28 Jahre nach dem Attentat auf den Antimafiarichter Giovanni Falcone (23. Mai 1992), in dem auch seine Frau und drei Leibwächter getötet wurden, hält der Mailänder Professor die Lehren seines Vorbilds für entscheidend im Kampf gegen die Mafien.

*Nando dalla Chiesa hat an der „Statale“-Universität in Mailand den Lehrstuhl für die „Soziologie der OK“ aufgebaut, er unterrichtet auch im Ausland (u.a. in Berlin, Halle, Leipzig, in München und Stuttgart). In der vorlesungsfreien Zeit organisiert er die sog. „Università itinerante“ (=die Universität auf Reisen) und internationale Kongresse, die sich mit Aspekten des Kampfes gegen die OK befassen. Außerdem war er als Politiker tätig, er hat Bücher zum Thema veröffentlicht und ist Ehrenpräsident der größten italienischen Antimafia-Organisation Libera…Antimafiaduemila.com

 

 

 

 

 

 

 

Exzerpt

Falcones Erkenntnisse sind auch heute noch gültig. Er ist derjenige Antimafiarichter, der am gründlichsten das Phänomen Mafia studiert hat und seine Erkenntnisse der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt hat, um konkrete Ergebnisse im Kampf gegen die Mafia zu erzielen. Man kann sie nachlesen in: Giovanni Falcone in collaborazione con Marcelle Padovani, Cose di Cosa Nostra, 1991, deutsch: Inside Mafia, 1991.

Die zwei am häufigsten zitierten Sätze Falcones sind: „Folge der Spur des Geldes“ und: „Die Mafia ist ein menschliches Phänomen. Sie hatte einen Anfang und wird auch ein Ende haben“.

„Folge der Spur des Geldes“: Dieses Prinzip hat Falcone zum ersten Mal im Prozess Spatola (palermitanischer Bauunternehmer und Mafioso) angewandt und mit diesen Beweisen eine Verurteilung erreicht (Vorher gab es in Mafia-Prozessen regelmäßig Freisprüche). Es ist klar, dies bedeutet, dass Richter und Staatsanwälte über eine Zusatz-Qualifikation verfügen müssen: Sie müssen in der Lage sein, dieser Spur zu folgen, müssen entsprechende Spezialkenntnisse haben.

Mafia heißt: Kontrolle des Territoriums, die Mafia ist also eine Form von Machtausübung, von Machtanspruch“. Falcone ist einer der wenigen, der die Mafia so definiert. Viele Mafia-Experten finden elegantere Formulierungen dafür, was Mafia ist. Allerdings, wer sich tatsächlich in die direkte Auseinandersetzung begeben hat, er denke da an Falcone, an Pio La Torre und an seinen Vater, der habe die Mafia als Form von Machtausübung beschrieben. Dies bedeutet, dass es nicht nur um Geld geht. Es geht um eine Aushöhlung der Gesellschaft, um bewusste und unbewusste Allianzen, die die Interessen der Mafia bedienen. Mafia ist ein Gesellschaftssystem, Ausdruck der Macht, die man in einem bestimmten Territorium besitzt. Primär ist da die Fähigkeit der Mafia, im eigenen Territorium durch die Beziehungen zu Personen in einer Machtposition illegale Macht auszuüben und Gewalt anzuwenden. Diese Herrschaft wird dann durch das Geld noch verstärkt, das sich die Mafia durch ihr Eindringen in die Wirtschaft angeeignet hat.

Die Mafia hatte einen Anfang und wird auch ein Ende haben.“ Dalla Chiesa überlegt, ob Falcone diesen Satz vielleicht gesagt hat, um anderen Mut zu machen, sich zu engagieren. Denn auf der gleichen Seite im Buch (s.o.) warnt der Antimafiarichter davor, die Bekämpfung der Mafia den folgenden Generationen zu überlassen. Veränderungen in der Kultur sind nicht ausreichend. Für einen Sieg über die Mafia muss man etwas tun, ist harte, beständige Arbeit nötig und totale Professionalität. Man weiß, die Mafiosi sind Profis – und Profis werden schwerlich von Dilettanten besiegt. Voller Einsatz wird verlangt. Denn auch die Mafiosi geben vollen Einsatz. Hinter den Zitaten Falcones stecken also komplexe Ideen, die die eigentlichen Lehren Falcones sind. Deshalb bemühe er sich auch, bei allem was er tue, die Denkweise Falcones, Falcones Konstruktion einer eigenen Disziplin, zu erklären. Es sei ihm ein wichtiges Anliegen, dass Falcones Ideen nicht auf einige wenige, aus dem Zusammenhang gerissene Sätze reduziert würden.

Eine Erfindung Falcones ist auch der Straftatbestand „Beihilfe zu Mafia-Aktivitäten“ (concorso esterno in associazione mafiosa). Dies wird gerne vergessen. Wenn all die Gewerbetreibenden, all die Unternehmer, Politiker, Journalisten usw. nicht ständig Unterstützung leisteten, könnte die Mafia ihre Ziele nicht erreichen. Es wäre fantastisch, wenn man endlich genau untersuchen würde, welche konkreten Hilfestellungen der Mafia von welchen Leuten systematisch zur Verfügung gestellt werden. Im genannten Buch von Falcone finden sich diese Forderungen nach harter Arbeit, nach absoluter Professionalität, die Forderung, dass Staatsanwälte adäquat ausgebildet und die Polizeikräfte auf höchstem Niveau geschult werden, wenn ein Staat Ernst machen will mit dem Kampf gegen die Mafia. Aber wie soll das gehen, so fragt er sich, wenn man in Italien ein vollständiges Jurastudium absolvieren kann, ohne dass ein einziges Mal das Wort Mafia fällt. Die Mafia bekämpft den Staat an allen Fronten, da könne man doch nicht so tun, als handle es sich bei diesem Kampf um ein Spiel. Wissen über die Mafia ist zentral, aber nicht jeder muss alles über die Mafia wissen. Es kann jedoch nicht sein, dass der Staat, die Gesellschaft, aber vor allem Leute in entsprechenden Positionen keine Ahnung von der Mafia haben. Nicht nur, weil sie Verantwortung für das Gelingen haben, sondern auch deswegen, weil sie in ihrer Funktion das Kollektiv gegen die Mafia verteidigen müssen.

Wenn man sich heute Leute ansehe, die sich von Amts wegen mit den Gesetzen, dem Recht befassen, müsse man sich oft sehr wundern über den Abgrund, der sich auftue zwischen dem, was Falcone vor 30 Jahren forderte, und dem tatsächlichen Verhalten dieser Leute. Das verbittere ihn doch ziemlich. Er, dalla Chiesa, habe sich ganz der Aufgabe gewidmet, die Bildungsinstitutionen zu Orten zu machen, an denen eine adäquate Ausbildung möglich sei, die mit dem Ausmaß der Gefahr durch die Mafien Schritt halte und dass das Thema nicht nur die Domäne der Juristen bleibe. Leider sei das Thema Mafia noch nicht einmal die Domäne der Juristen, denn in diesen Kreisen halte man das Studium der Mafia für nicht besonders elegant. Lieber befasse man sich damit, wie die bestehende Antimafia-Gesetzgebung entschärft werden könnte, als damit, welche neuen Gesetze für einen wirksamen Kampf gegen das organisierte Verbrechen gemacht werden müssten.

Denken können wie die Mafiosi“: Nur wenn man weiß, wie sich Mafiosi in bestimmten Situationen verhalten, ist man in der Lage, sie wirkungsvoll zu bekämpfen oder sogar vorherzusehen, was sie tun werden. So war es 2015 bei der Expo in Mailand möglich, vieles tatsächlich zu verhindern. So mache man es auch jetzt in der Corona-Krise, wenn man sich überlegt, wo die Mafien was tun werden und mit welchen Mitteln.

Die eigentliche Macht der Mafia liegt außerhalb der Mafia.“ Die meisten Helfer der Mafia, die selber nicht zur Mafia gehören, unterstützen nicht direkt deren Aktivitäten, aber sie fördern sie dadurch, dass sie die Gegner der Mafia bekriegen. Ein aktuelles Beispiel: Ein Antimafia-Staatsanwalt fordert, dass die medizinischen Gutachten, mit deren Hilfe vor kurzem zig Hochsicherheitshäftlinge aus dem Gefängnis in den Hausarrest entlassen wurden, genauestens geprüft werden müssten. Im Fernsehen kommentiert dies ein Intellektueller und sagt, die Antimafia sei ja schlimmer, gefährlicher als die Mafia. Eine solche Aussage ist mehr als eine Provokation. Ein Intellektueller kennt die Wirkung von Worten, er weiß haargenau, was er sagt. Und egal welche persönlichen Eitelkeiten ihn leiten, er weiß genauso gut, dass eine solch spektakuläre, skandalöse Äußerung auf jeden Fall ein großes Geschenk für die Mafia ist. Dieses Beispiel verweist auf ein großes Problem: Die Art und Weise wie das Fernsehen, ja wie die ganze Gesellschaft mit verschiedenen Meinungen umgeht, wie sie bestimmte Meinungen unterstützt und andere einfach ignoriert. Das sei schon zu Falcones Zeit so gewesen. Den größten Raum bekommen stets die Kritiker. Auch heute noch sei das so und es lasse erkennen, wie in Italien der Kampf gegen die Mafia geführt werde.

Er wiederholt: Die eigentliche Macht der Mafia liegt außerhalb der Mafia. Ja, das stimmt. Man kann den Kampf gegen die Mafia nicht an einzelne Personen delegieren, man muss auch genau hinsehen, woher die Unterstützung aus der Gesellschaft kommt. Wenn diese Allianzen nicht wären, hätte die Mafia keine Chance.

 

 

Mafia und Corona-Krise IV: Mafiabosse können nach Hause gehen

 

In Italien sind in letzter Zeit gefährliche Mafiabosse, mehrere Schwerkriminelle und Kriminelle aus dem Heer der Mafia-Soldaten in den Hausarrest entlassen worden. Verwunderlich nur, dass erst seit einer Fernsehsendung vom 3. Mai, in der dies Thema war (Non è l’Arena, auf La7), die Wogen auch außerhalb der wenigen Medien, die sich traditionell mit dem Thema Mafia befassen, hochschlagen. Jetzt sucht man nach Schuldigen.

  1. bis 9. März 2020: Ganz Italien, das von der Corona-Pandemie besonders stark betroffen ist, wird von Revolten in 22 Gefängnissen erschüttert. Die Aufstände fordern zahlreiche Opfer, darunter auch 12 Tote. Und da die Rebellionen am gleichen Tag, zur gleichen Stunde losgehen und auch zeitgleich wieder enden, und auf Grund weiterer merkwürdiger Vorkommnisse gehen die Ermittler von einer gemeinsamen Regie aus dem Untergrund aus: Die Mafia nutzt die Pandemie, um für ihre Häftlinge Verbesserungen oder gar die Freiheit zu erreichen…..Ilfattoquotidiano.it
  2. April 2020: Nachdem schon mehrere Häftlinge „wegen Corona“ in den Hausarrest entlassen wurden, entscheidet der zuständige Richter, dass der Camorra-Boss Pasquale Zagaria, der in Sassari in Isolationshaft einsitzt (der sog. 41bis, vorgesehen für Mafiabosse, für Terroristen und Pädophile), in den Hausarrest entlassen wird. Der Richter hatte immer wieder darum gebeten, für den kranken Boss einen alternativen Gefängnisplatz zu den Bedingungen des 41 bis zu finden. Doch von der zuständigen Behörde, dem Dap (die nationale Gefängnisverwaltung), kam im Laufe eines ganzen Monats keine entsprechende Antwort. So entschied sich der Richter für den Hausarrest. Übrigens: Außer Zagaria dürfen auch andere Häftlinge nach Hause. Die Meldungen überschlagen sich, Vertreter der Antimafia kritisieren, der Staat erwecke den Anschein, sich der Erpressung der Mafia durch die Gefängnis-Revolten zu fügen.
  3. April 2020: Der Chef des Dap tritt zurück. Der Justiziminister Bonafede installiert an der Spitze der Behörde zwei Antimafia-Richter.
  1. Mai 2020: Der Journalist Massimo Giletti lädt in seine Sendung hochrangige Experten ein, um eine sachgerechte Rekonstruktion der Ereignisse zu ermöglichen: Warum werden gefährliche Schwerkriminelle aus dem 41bis entlassen und in Hausarrest geschickt? Im Lauf der Sendung gelangt man zu dem Ergebnis, dass bisher 3 Häftlinge, die zu den Bedingungen des 41 bis einsaßen, in den Hausarrest entlassen wurden. Aber auf dem Schreibtisch des Leiters des Dap bzw. des Ministers liege ein Stapel von knapp 300 Anträgen auf Umwandlung der Haftstrafe in Hausarrest. Man diskutiert über die Frage, weshalb der Justizminister sich nicht rechtzeitig um spezielle Maßnahmen für die italienischen Gefängnisse in Zeiten der Pandemie gekümmert habe, weshalb der Leiter des Dap zurückgetreten ist, warum überhaupt jemand zum Chef dieser Behörde gemacht wurde, der trotz seiner persönlichen Meriten nicht geeignet war, die besonderen Probleme mit den gefährlichen Mafiabossen zu händeln.

Der ehemalige Staatsanwalt De Magistris erwähnt, dass der Justizminister 2018 den Richter Nino Di Matteo gefragt hatte, ob er nicht die Leitung des Dap übernehmen oder eine Position im Justizministerium haben wolle – ein Posten, den als erster Giovanni Falcone eingenommen hatte. Er solle zwischen diesen beiden Optionen wählen. Daraufhin meldet sich Di Matteo telefonisch in der Sendung und rekonstruiert, wie es kam, dass er eben doch nicht Chef der Gefangenenverwaltung geworden ist: Als nämlich bekannt wurde, dass möglicherweise Di Matteo zum Leiter des Dap ernannt werde, meldete die Gefängnispolizei, dass Mafia-Bosse sich von einem Stockwerk zum anderen zugerufen hätten, „Der scharfe Hund, wenn der kommt, dann ist es aus mit uns!“ Sie hätten mit Streik und Revolten gedroht. Und als Di Matteo am nächsten Tag dem Minister mitteilen wollte, er akzeptiere die Aufgabe im Dap, habe er zur Antwort bekommen, man habe es sich anders überlegt, die Aufgabe im Ministerium sei doch viel interessanter. Im Fernsehstudio streitet man nun über die Frage, ob der Protest der Mafiosi Einfluss auf die Entscheidung des Ministers gehabt haben könnte, einen Rückzieher zu machen. Nun meldet sich auch der Minister telefonisch zu Wort. Bonafede weicht aus, unterstreicht mit vielen Worten, dass dies ein konstruierter Zusammenhang, eine persönliche Wahrnehmung Di Matteos sei, aber kein Fakt. Aber weshalb er dann Di Matteo abgesagt hat, darauf gibt er keine Antwort.

www.la7.it (das Thema der aus dem Gefängnis entlassenen Häftlinge beginnt nach 1 Stunde und 10 Minuten)

  1. Mai 2020: Der Justiziminister Bonafede verkündet: „Die Unabhängigkeit der für die Haftbedingungen zuständigen Richter ist heilig, sie wenden geltendes Gesetz an. Aber die Gesetze machen wir. Der Hausarrest wurde wegen der Krise im Gesundheitswesen zugestanden. Aber jetzt hat sich die Lage geändert.“ Er kündigt damit an, an einem Gesetz zu arbeiten, das die entlassenen Häftlinge wieder in die Gefängnisse zurückbeordern soll. – Die Opposition stellt ein Misstrauensvotum gegen den Minister, über das am 13. Mai abgestimmt werden wird. Il fatto berichtet, es seien 456 Mafiabosse, die einen Antrag gestellt haben, wegen der Coronakrise in Hausarrest gehen zu dürfen.

Corona-Virus III – Nachrichten, die zu denken geben: Wer regiert eigentlich die Welt?

8. April 2020: Ein Lieferwagen voller Bargeld (ca. eine halbe Million Euro) wird an der Grenze zu Italien gestoppt. An Bord mehrere Kalabrier aus dem Umfeld der `ndrangheta. Schmutziges Geld – aber eben Bargeld – mit dem man in Zeiten des Corona-Virus die Geldverleiher der Mafia und die in Liquiditätsschwierigkeiten steckenden Unternehmer füttern wollte…..Ilfattoquotidiano.it

8. April 2020: Bericht über einen Beitrag im Rahmen der Politiksendung Dimartedì des TV-Kanals La7 vom 7.4. 

Der amerikanische Politologe Edward Luttwark bezeichnet italienische Richter als „schwarze Schafe, die sich alles erlauben“.

Luttwark, Berater des amerikanischen Außenministeriums, wird per Videokonferenz zugeschaltet und vom Moderator Giovanni Floris gefragt, wie er die Situation Italiens in der Corona-Krise einschätze. Seine Antwort: „Ich bin total entsetzt. Ich sehe die Italiener ohne Krawatte, das bedeutet, dass die Situation wirklich grauenhaft sein muss. Eine Krawatte tragen bloß Salvini und Sileri. Die Amerikaner tragen nie eine Krawatte, aber wenn die Italiener sie weglassen, muss es sich um eine globale Krise handeln.  Ich habe die Worte des Richters (Gratteri, der vor Luttwak das Wort hatte) gehört. Aber Ihr wisst alle genau, dass die Investoren in aller Welt keine Angst vor der Mafia, vor der ‚ndrangheta haben, sondern vor den italienischen Richtern! Das sind von der Leine gelassene Hunde, die sich alles erlauben. Heute habe ich das letzte Regierungs-Dekret gelesen, und ich sehe, wie sich Funktionäre und der Finanzminister um ein sinnvolles Vorgehen bemühen. Das Regierungs-Dekret hatte 100 Seiten, während man in der Schweiz oder den USA mit 8 Seiten auskommt. Und weshalb? Wenn der italienische Staat sich bewegt, egal in welche Richtung, dann gibt es da 150 Sachen, weil dann diese Prozesse gemacht werden. Diese Richter, diese Gerichte, die ihre Urteile nicht einmal in 4 oder 5 Jahren geschrieben bekommen…. Ich kann bloß hoffen, dass Italien nach dieser Krise da rauskommt mit dem Gedanken an eine Erneuerung.“

Italienische Kommentatoren fragen sich, weshalb der Moderator diese Äußerungen Luttwarks zur Verteidigung der Investoren nur mit einem (verlegenen?) Lächeln beantwortete. Man kann sich auch fragen, wer hat ihn eingeladen und zu welchem Zweck? Denn Luttwark ist in Italien keine unbekannte Person. Aus beschlagnahmten Papieren des SISMI (italienischer militärischer Geheimdienst) geht hervor, dass er auf dessen Gehaltsliste stand, und es gibt Aussagen, dass er auch für den CIA gearbeitet habe. Im Artikel von Bongiovanni werden selbst weit zurückliegende Fernsehauftritte Luttwarks  mit seinen „wirren Ideen“ genannt, z.B. die Loslösung Siziliens von Italien, ein Projekt, das von Cosa Nostra vorangetrieben wurde, bevor Silvio Berlusconi seine Partei Forza Italia gründete.

9. April 2020 Francesca Re David, Gewerkschaftsvorsitzende der FIOM, kritisiert den Druck, den Confindustria und Unternehmer-Vereine in Nord-Italien machen, die Einschränkungen zu lockern. Für sie sei der Profit wichtiger als die Gesundheit der Menschen, das heiße auch die der eigenen Mitarbeiter. Gleich darauf bezieht der Minister Boccia Position gegen den Chor der Unternehmer: „Die Regierung hat klare Vorstellungen. Wir müssen zuerst die Gesundheit der Bürger schützen, denn wenn sie nicht gewährleistet ist, gibt es weder Wirtschaft noch Entwicklung.“

8. April 2020: Palermo: Mafioso verschenkt Einkaufstüten im Stadtviertel ZEN und beschimpft und bedroht den Journalisten der Repubblica,  der darüber berichtet.

Giuseppe Cusumano, Bruder des inhaftierten Drogenbosses des ZEN und selber vorbestraft, Gegenstand von polizeilichen Ermittlungen, weil er an geheimen Treffen von Mitgliedern der sog. Cupola 2 teilgenommen hat, verteilt auf einer Straße Palermos Tüten mit Grundnahrungsmitteln an arme Leute. Die Polizei beginnt mit Ermittlungen, der Journalist Salvo Palazzolo berichtet darüber. (Sein Artikel muss bezahlt werden) Offiziell verantwortlich für die Schenkungen ist der Verein San Pio (Zen), der finanziert wird durch Spenden von Kaufleuten und Privatpersonen. Unter den Vorstandmitgliedern sind auch vorbestrafte Personen, zum Teil im Zusammenhang mit Mafia-Ermittlungen. Über den Zeitungsbericht erregt sich Cusumano und postet in den sozialen Medien: Herrschaften, der Staat will nicht, dass wir Gutes tun, weil wir Mafiosi sind und anstatt sich bei mir zu bedanken, schreiben sie solche Artikel gegen mich. Ok, weil ich den Leuten helfe und dafür sorge, dass sie nicht verhungern, bin ich stolz darauf, ein Mafioso zu sein… Von jetzt an verschenke ich nichts mehr. Herrschaften, der Staat will nicht, dass sich im ZEN was ändert, jetzt habt ihr es kapiert! Es folgen Beleidigungen und Drohungen an die Adresse von Palazzolo, ergänzt von bösartigen und drohenden Kommentaren der Follower. Der Vorfall zeigt, dass die Mafia versucht, die in den letzten Jahren etwas verloren gegangene Zustimmung in der Bevölkerung wieder herzustellen und sich an die Stelle des Staates zu setzen. Es folgen eine Serie von Solidaritätsbekundungen von Seiten der Kollegen und von Amtsträgern….Antimafiaduemila.com

„Aber zählt denn in dieser Welt bloß der Profit?“ –
„Aber nein, es gibt auch den Gewinn“

ilcircolaccio.it/2018/02/26/castelvetrano-la-teoria-della-raggera-e-leconomia-fittizia-del-cemento-e-delle-opere-edili

Die Mafien in Zeiten des Corona-Virus II

Weitere Stimmen aus Italien – eine Auswahl

Indulto = Amnestie

Franco Roberti, ehemaliger nationaler Antimafia-Staatsanwalt, jetzt Abgeordneter im Europaparlament, wird zur Meldung der Zeitung Il Mattino befragt, dass Angehörige und Gefolgsleute der Camorra in Neapel Einkaufstüten mit Nudeln, Brot und anderen lebenswichtigen Lebensmitteln kostenlos verteilen: „Die Camorra ist System. Es handelt sich dabei um Werbung für einen ganz bestimmten Lebensweg – Camorra – von der Wiege bis zur Bahre.“ Die Strategie sei, damit neue Anhänger und Komplizen zu gewinnen, auch im Bereich der Wirtschaft. Auf die Frage, ob die Camorra eine eigene Methode habe, sich in der lokalen Wirtschaft breitzumachen, verweist Roberti darauf, dass in Neapel seit dem Zweiten Weltkrieg neben dem legalen Markt der vielleicht noch größere Schwarzmarkt existiere. Er werde von den Behörden toleriert, um die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten und um ganzen Bevölkerungsgruppen das Überleben zu ermöglichen, die andernfalls wegen des Mangels an legaler Arbeit „verschwinden“ müssten. Die aktuelle Krise sei vielleicht die letzte Gelegenheit zu beweisen, dass der Staat, wenn er will, stärker sein kann als die Camorra.

Giuseppe Lombardo, Antimafia-Staatsanwalt in Reggio Calabria, analysiert das Verhalten der `ndrangheta: In der ersten Phase der Krise ziele das Vorgehen darauf, den bisher bekannten kriminellen sozialen Kontext nicht zu destabilisieren, man bevorzuge deshalb eine „Tätigkeit in der Stille“. Sobald aber die Zahlen zurückgingen, die Notsituation sich abschwäche, würde die `ndrangheta versuchen, die neuen Szenarien im Bereich der Wirtschaft und der Finanzen in Italien und im Ausland ganz genau zu erforschen. In dieser Phase würden weltweit Analysten von den großen Mafien beauftragt, die einträglichsten produktiven Sektoren zu ermitteln, in die dann die immensen Summen kriminellen Geldes fließen könnten- An der Spitze der `ndrangheta liefen dann die Planungen für das bisher größte „Finanz-Doping“ aus Mafia-Kapital, das die Welt in jüngster Zeit gesehen hätte. Die Aufgabe der „Basis“ werde es sein, die Rolle der `ndrangheta als „atypischer sozialer Stabilisator“ zu festigen und mit zinslosen Darlehen mittellosen Privatpersonen und Unternehmern kurz vor der Insolvenz unter die Arme zu greifen. Die Vertreter der Kommandozentrale der `ndrangheta würden zunächst einmal das Ziel verfolgen, das Überleben breiter Bevölkerungsschichten zu garantieren, die für jede Art illegalen Markt tätig sind und deshalb keinen Anspruch auf staatliche Hilfen anmelden können. Man werde selbstverständlich auch nicht darauf verzichten, das so erworbene Ansehen in der Bevölkerung für die eigenen Zwecke zu nutzen. Außerdem, so Lombardo, werde man sich die Situation zunutze machen, dass die nötigen Summen für die Bewältigung der Krise durch den Staat fehlten und dass lediglich illegales Kapital sofort verfügbar und völlig flexibel einsetzbar sei: Die großen Mafia-Organisationen, befürchtet der Staatsanwalt, würden sich nicht mehr damit begnügen, sich kleine oder große Betriebe anzueignen, sie werde noch mehr als bisher versuchen, ihre Stellung im Bereich der essentiellen Dienstleistungen zu festigen. Er nennt hier den Banken- und Finanz-Sektor, das gesamte Gesundheitswesen, die Pharma-Industrie und alle lebenswichtigen Produkte. Dass dies geschehe, müsse zum Schutz der legalen Wirtschaft unbedingt durch eine sofortige Reform der Antimafia-Gesetzgebung verhindert werden.

Täglich liest man von ähnlich lautenden Warnungen, die auch die sog. Phase 2 der Krise einbeziehen.

Stellvertretend dafür die schriftliche Stellungnahme des Chefs der Staatspolizei und Leiter der Hauptabteilung für innere Sicherheit im Innenministerium in Rom Franco Gabrielli: Interpol hat den Text an 194 Regierungen verschickt, die zur Organisation Interpol gehören, denn in ihm werden die möglichen Auswirkungen der Corona-Krise auf die Aufgaben der Polizei und auf die Entwicklung der OK beschrieben. Die Corona-Krise stelle eine Situation dar, wie man sie sich schlimmer nicht vorstellen könne. Sie berge das Risiko eines „Finanz-Dopings“ durch Gelder krimineller Herkunft und das eines parallelen Sozialsystems, das von den großen Mafia-Organisationen finanziert und organisiert werde. Heute verteilten die Mafien im Süden Italiens Grundnahrungsmittel an die Familien, die nicht auf die Ankunft der von der Regierung angekündigten Essensgutscheine warten könnten. Außerdem hätten sie einen Generalerlass auf die Bezahlung von Kreditzinsen erlassen. In Phase 2 könnte der Druck durch die Mafien geradezu explodieren. Entscheidend sei deshalb schon heute die Strategie, die von den Polizeikräften entwickelt werde, wenn man den Rechtsstaat aufrecht erhalten und die Wirtschaft vor der Vergiftung durch die OK bewahren wolle. Nach einer Analyse der aktuellen Situation, die im Wesentlichen der von Giuseppe Lombardo entspricht, nennt er die vier Maßnahmen, die deswegen jetzt getroffen werden müssen: 1. Die Kontrolle der betroffenen Infrastrukturen muss verschärft, die Maßnahmen im Bereich der Prävention müssen verstärkt und wirkungsvoller gemacht werden. 2. Es müssen größtmögliche Anstrengungen im Bereich der Ermittlungsarbeit unternommen werden, um zu sehen, in welcher Weise sich die kriminellen Organisationen neu aufstellen. 3. Die Wirtschafts- und Finanzkreisläufe müssen genauestens analysiert und kontrolliert werden, um zu vermeiden, dass Mafia-Kapital in die legalen Kreisläufe eingeschleust wird. 4. Und da die bestbezahlten Analysten schon am Werk seien, um für die Mafien die nach der Corona-Krise profitabelsten Gelegenheiten zu prüfen, müsse man die Mafia-Infiltration bei den „großen Bauwerken“ (in Italien z.B. die Hochgeschwindigkeits-Bahnstrecke Turin-Lyon) verhindern und die transnationale Zusammenarbeit der Polizeikräfte verstärken und weiter ausbauen.    

Problemfeld Gefängnisse: Gleich nach Ausbruch der Corona-Krise, als die Regierung Anfang März die Besuche von Angehörigen in den Gefängnissen stoppte, gab es über ganz Italien verteilt gleichzeitig (zwischen dem 7. Und 9. März) heftige Revolten in 22 Haftanstalten. Die Ermittlungen dazu gehen inzwischen von einer okkulten Regie aus dem Kreis der Mafiaorganisationen aus, während die konkrete Ausführung Aufgabe von Kleinkriminellen war. Das Ergebnis: zig geflohene Häftlinge, zig Verwundete, 22 Tote (laut Behördenangaben seien alle an einer Überdosis Methadon oder anderer Medikamente verstorben, die sie in den Gefängnisapotheken gestohlen hatten.). Ziel der Aktion: Die Themen Amnestie, Straferlass und Hafterleichterung wieder zur Tagesordnung machen. Und die Strategie hatte Erfolg: Verschiedene Stimmen verlangen z.B. für mindestens 10 000 Häftlinge die Haft durch Hausarrest zu ersetzen, während vor allem Vertreter der Justiz darin ein Nachgeben des Staates auf einen Erpressungsversuch der Mafien sehen.

Nino Di Matteo meint, „selbst wenn es sich tatsächlich nicht um eine Kapitulation des Staates gegenüber der Mafia handelt, es könnte danach aussehen“. Noch deutlicher wird Nicola Gratteri: „Wenn ich Justizminister wäre, würde ich jetzt zuerst alle Haftanstalten gegen jedes Telefonsignal abschirmen. Es ist doch kein Zufall, dass die Revolten über eine Distanz von über 1000 km gleichzeitig ausbrechen. Das passiert, weil die Gefängnisse voller Handys sind. Wie könnte es sonst sein, dass um 10 Uhr morgens eine Revolte in Foggia ausbricht und zur gleichen Uhrzeit eine in Modena?“ Wen die genauen (und interessanten) Ergebnisse der bisherigen Ermittlungen interessieren:
Ilfattoquotidiano.it

Die Mafien in Zeiten des Corona-Virus – Antimafia-Experten schlagen Alarm