Italien/Kalabrien: Ndrangheta-Bosse schreiben Dankbriefe an einen Richter

„Nehmen Sie uns unsere Kinder weg, vielleicht kann man sie so davor bewahren, ebenfalls Mafiosi zu werden“

Seit einigen Jahren gibt es in Italien ein Gesetz, das in den Fällen, „in denen ein konkreter schädlicher Einfluss festgestellt wird, der auf eine Erziehung zur Mafiakultur zurückzuführen ist“, dem Gericht für Minderjährige ermöglicht, das Kind den Eltern zu entziehen.

Zunächst kam es zu heftigen Reaktionen, vor allem von Seiten inhaftierter Bosse: „Unsere Kinder werden nicht angerührt!“ Oder: „Zuerst konfisziert ihr Mafia-Besitz, jetzt unsere Kinder!“

Doch eine solche drastische Maßnahme wird nie leichtfertig angeordnet, sagt der Leitende Oberstaatsanwalt in Reggio di Calabria Federico Cafiero De Raho. „Wir haben da Jugendliche vor uns, die sich schon wie Bosse verhalten. Ihre Eltern sitzen im Gefängnis oder sind untergetaucht. Sollen wir zulassen, dass ihre Eltern sie weiter für eine Verbrecher-Karriere vorbereiten? Die Blutsverwandtschaft spielt in der `Ndrangheta eine Rolle wie in keiner anderen Mafia-Organisation. Und wenn man sich die Abhörprotokolle anhört, die in `Ndrangheta-Familien aufgenommen wurden, dann scheint in der Tat das Schicksal schon kleiner Kinder vorgezeichnet zu sein.“

Die Bestimmung zu einem Leben als Kriminelle beginnt für männliche Nachkommen eines `Ndrangheta-Bosses schon gleich nach der Geburt. Die Regeln bestimmen, dass die Söhne eines Bosses schon bei der Taufe durch ein besonderes Ritual als neues Mitglied in die `Ndrangheta aufgenommen werden. Aber auch in anderen `Ndrangheta- Familien werden schon Kinder auf ihre Zukunft als Kriminelle vorbereitet. Aus einem Abhörprotokoll geht hervor, dass ein Vater seinem siebenjährigen Sohn eine Waffe in die Hand gedrückt hat: „Schieß! Schieß endlich“ . Im Prozess „Faida“ gegen die Attentäter von Duisburg (2007) waren auch mehrere Minderjährige, die wegen Zugehörigkeit zur Mafia und wegen Beihilfe angeklagt waren. In den letzten 20 Jahren hat das Gericht für Minderjährige in Reggio über hundert Prozesse wegen Mafia-Vergehen gegen noch nicht volljährige Mafiosi durchgeführt, darunter etwa 50 wegen Mordes. Der Gerichtspräsident Roberto Di Bella meint: „Wir haben da eine Generation vor uns, die wir hätten retten können, die wir aber im Stich gelassen haben“.

Das Gericht musste diverse Kritiken einstecken, auch von einzelnen Vertretern der katholischen Kirche, doch der bei Libera* organisierte Priester Don Pino De Masi zum Beispiel ist überzeugt, dass so Kindern und Jugendlichen aus Mafia-Familien eine Alternative angeboten werden kann. In seiner Gemeinde kam es schon mehrfach vor, dass ihm ein Junge zuflüsterte, dass er sich für seinen Familiennamen schäme. Don Pino ist überzeugt: „Es ist unsere Aufgabe ihnen zu helfen, den nächsten Schritt zu tun.“

Natürlich handelt es sich um eine extreme Maßnahme, die nur getroffen wird, wenn die Ermittlungen der Justiz konkrete Hinweise ergeben, dass Jugendliche sich schon auf dem Weg in die Kriminalität befinden: z.B. als Bewacher von Waffen oder Drogen, oder wenn kleine Jungs von Älteren zum Abfeuern einer Schusswaffe gezwungen werden. Auch für Mädchen gibt es Regeln, z.B. unbedingter Gehorsam, Schweigen, Zwangsheiraten mit anderen Mafia-Angehörigen, die die Position eines Clans stärken sollen. Die meisten Kinder „atmen“ von Geburt an „Mafia-Luft“, eine Mentalität, die die Beziehung zum Staat und zur Zivilgesellschaft zerstört.

Manchmal genügt die Wahrnehmung, dass der italienische Staat Präsenz zeigt, um die Mauer des Schweigens zu durchbrechen, nur so lässt sich erklären, dass sich im letzten Jahr eine Gruppe von etwa 10 Müttern mit ihren Kindern an den Gerichtspräsidenten Di Bella gewandt und um Hilfe gebeten hat. Sie wollten mit ihren Kindern nach Nord-Italien gebracht werden, möglichst weit weg von ihren Ehemännern. Di Bella: „Das ist ein völlig neues Phänomen. Diese Frauen haben furchtbare Erlebnisse hinter sich, unsere Maßnahmen regen also zu neuartigen Reaktionen an.“ Di Bella betont des weiteren, dass es sich noch um ein Experiment handele, entscheidend ist für ihn, Kindern und Jugendlichen das Angebot einer Alternative zum Leben als Kriminelle zu bieten.

Kritik am Kindesentzug kam auch von verschiedenen Experten, die einerseits einen derartig massiven Eingriff in die Familie ablehnen, andererseits werden die Maßnahmen von anderen Fachleuten auch für unzureichend gehalten: um die Mafia-Kultur zu bekämpfen, müsste man sich weiter reichende Maßnahmen überlegen, die z.B. die gesamte Familie oder ein ganzes Gebiet in die Umerziehung einschlössen. Inzwischen kann Di Bella aber nun vor allem positive Reaktionen vermelden:

Vor einigen Wochen erhielt der Gerichtspräsident den Brief eines `Ndrangheta-Bosses, der seit 10 Jahren in Isolationshaft einsitzt: „Ich schreibe Ihnen als Vater, ein Vater, der sich wegen der Familiensituation größte Sorgen um seinen Sohn macht. Ich bin einverstanden mit ihren Maßnahmen, nur wenn Sie mein Kind diesem Umfeld entziehen, wird es eine bessere Zukunft haben. Wenn ich die gleiche Möglichkeit gehabt hätte, vielleicht wäre ich jetzt nicht da, wo ich bin!“ Das ist aber nicht der einzige Brief! Auch andere Bosse haben sich mit Briefen bedankt. Dann gibt es die Rückmeldung einer Mutter, die seit vier Jahren mit ihrem kleinen Sohn an einem geheimen Ort außerhalb Kalabriens lebt oder den einer Vierzehnjährigen, beide Eltern wegen Mafia-Verbrechen im Gefängnis, die schreibt: „Ich gehe nie wieder nach Kalabrien zurück!“. Wiederholt werden Mütter im Büro des Gerichtspräsidenten vorstellig, die ihre Kinder der Mafia-Kultur entziehen wollen. Sie bitten um Unterstützung, weil sie ihre Familie und das Mafia-Umfeld verlassen wollen. Auch betroffene Jugendliche melden sich zu Wort. Ein anderes Mädchen (ebenfalls beide Eltern wegen Mafia-Vergehen in Haft), das sich zuerst heftig wehrte, als es abgeholt und in den Norden gebracht werden sollte, bedankt sich nun folgendermaßen: „Sehr verehrter Herr Präsident, wo ich jetzt bin, habe ich ein neues Leben begonnen, ich bin sozusagen neu geboren worden. Die Familie, der Ihr mich anvertraut habt, mag ich sehr. Sie mögen mich ebenfalls und geben mir ihre ganze Liebe. Ich gehe gerne zur Schule. Dort geht es mir gut, und ich fühle mich wohl mit meinen neuen Freundinnen. Nach Kalabrien gehe ich nie wieder. Am Anfang war es hart, aber jetzt geht es mir gut, danke!“

Nachricht vom 16.2.17: Das Gericht für Minderjährige in Neapel entzieht der Familie eines Camorra-Bosses das Sorgerecht für die Kinder. Zwei Kinder waren beim Erscheinen der Beamten damit beschäftigt, Kokain-Päckchen zu packen. Napoli Repubblica

  • Die `Ndrangheta ist die aus Kalabrien stammende Mafia, die seit Jahren als wesentlich mächtiger eingestuft wird als die in Sizilien beheimatete Cosa Nostra. Die `Ndrangheta beherrscht weltweit den Kokain-Handel und ist auch in Nord-Italien und z.B. in Deutschland fest verwurzelt.

*   Libera ist die größte Antimafia-Organisation in Italien, die inzwischen Niederlassungen in anderen Staaten der EU hat und mit dem Berliner Verein „Mafia? Nein danke!“ zusammen-arbeitet.                                 

Gericht für Minderjährige – Staatsanwaltschaft für Minderjährige. Mediacalabria.it

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