Die Antimafia- Richter

  1. Der Antimafiarichter Paolo Borsellino

Paolo Borsellino (geb. 1940 in Palermo) nahm seine Tätigkeit in der Justiz 1963 auf.

Nach verschiedenen Stationen in Sizilien wurde er 1975 wieder nach Palermo versetzt und arbeitete zunächst im „ufficio istruzione affari penali“ (etwa „Amt für die Ermittlungen in Strafsachen“) unter dem Richter Rocco Chinnici.

Als 1980 der „Pool Antimafia“ in Palermo eingerichtet wurde, wurde er Mitglied dieses Pools, der aus drei Richtern und zwei Kommissaren bestand. In dieser Funktion wurde er Kollege und Freund von Giovanni Falcone, ebenfalls Richter im Pool. Von da an wurden also in Palermo Mafia-Ermittlungen im Team durchgeführt.

Die größte Herausforderung war die Vorbereitung des Maxiprozesses gegen Cosa Nostra . Da die Lage in Palermo höchst angespannt war, schickte man im Sommer 1985 die beiden Antimafiarichter mit ihren Familien ins Hochsicherheitsgefängnis von Asinara, da man sie nur dort sicher vor den Anschlägen der Mafia glaubte. In diesen Wochen bereiteten Falcone und Borsellino gemeinsam die Dokumente für den Maxiprozess vor. Gleichzeitig wurde im Gefängnis von Palermo ein eigener Hochsicherheits-Gerichtssaal gebaut, die „Aula Bunker“, in deren „Käfigen“ die vielen Angeklagten den Prozess verfolgen sollten. Als im Dezember 1987 die Urteile der ersten Instanz gefällt wurden, gab es fast nur Verurteilungen.

Die „Aula Bunker“ im Gefängnis von Palermo

1986 wurde Borsellino an die Staatsanwaltschaft Marsala berufen, von wo aus er weiter eng mit Falcone zusammenarbeitete.

In der Folgezeit wurde der Justizpalast von Palermo zum „Giftpalast“, das heißt, gegen Falcone wurden verschiedene Intrigen gesponnen, um ihn zu stoppen, wobei sein Freund Paolo sich immer auf seine Seite stellte. 1991 wechselte Falcone deswegen ins Justizministerium in Rom, während Borsellino seine Rückversetzung nach Palermo erreichte. Cosa Nostra und andere? aber schmiedeten schon Pläne, wie die beiden gefährlichen Antimafiarichter beseitigt werden konnten. Im Januar 1992 wurden die Verurteilungen im Maxiprozess in dritter Instanz bestätigt Nun gab es für die Feinde der beiden Richter kein Halten mehr. Am 23. Mai 1992 wurde Falcone mit Ehefrau und Eskorte auf der Autobahn bei Capaci in die Luft gesprengt, und nur 57 Tage später , am 19. Juli 1992, explodierte eine Autobombe in Via D’Amelio, wo Borsellino seine Mutter besuchen wollte.

Dieses Attentat brachte für die Öffentlichkeit das Fass zum Überlaufen.

Die bisher landesweit respektierte omertà wurde gebrochen. Die Bevölkerung ging auf die Straße, die Medien überschlugen sich bei der Berichterstattung, um die Öffentlichkeit umfassend über die Mafia zu informieren, der italienische Staat demonstrierte Stärke, indem er die Gesetze zum sog. „41 bis“ (Isolationshaft für Mafiosi und Terroristen) und zur Beschlagnahmung des Mafiabesitzes erließ. Da im März des gleichen Jahres schon ein wichtiger sizilianischer Politiker der Democrazia Cristiana, Salvo Lima, von der Mafia ermordet worden war und da in Rom eine Liste mit den nächsten Todeskandidaten unter den wortbrüchigen (5) Politikern zirkulierte, begannen im Geheimen, wie der Prozess zur „Trattativa“ aufgedeckt hat, Verhandlungen zwischen Vertretern von Cosa Nostra und italienischem Staatsvertretern.

  1. Ermittlungen, Prozesse und falsche Kronzeugen

Im September 1992 wurden die Ermittlungen zum Attentat in der Via D’Amelio aufgenommen. Die Hauptrolle bei den Ermittlungen und dem anschließenden Prozess „Borsellino Uno“ hatte Vincenzo Scarantino, ein unbedeutender Mafioso (6), der sich selber beschuldigte, den FIAT 126, in dem die Bombe explodierte, beschafft zu haben, und der weitere drei Personen beschuldigte, mit ihm das Attentat durchgeführt zu haben. Und so wanderten nach Prozess-Ende 1996 vier Personen ins Gefängnis – die aber das Attentat gar nicht begangen hatten!

Schon 1995 hatte Scarantino in einem Interview seine sämtlichen Aussagen zurückgezogen und gesagt, er habe Unschuldige beschuldigt – was ihm die Richter von Caltanissetta (7) einfach nicht abnahmen.

In der Folgezeit, im zweiten Prozess „Borsellino bis“, benannte Scarantino viele weitere Mafiosi, darunter auch den Boss der Bosse Totò Riina, die an der Vorbereitung und Durchführung des Attentats beteiligt gewesen seien. Eines Tages aber, im Verlauf einer Verhandlung (8), widerrief er noch einmal alle seine bisherigen Aussagen und gab an, er sei vom Polizeipräsidenten Barbera und durch Misshandlungen im Gefängnis gezwungen worden, falsche Aussagen zu machen. Wieder schenkten ihm die Richter keinen Glauben. Der Prozess „Borsellino bis“ wie auch der daran anschließende „Borsellino ter“ endete mit einer langen Reihe von Verurteilungen (2006).

Im Juni 2008 entschloss sich der Mafioso Gaspare Spatuzza aus Brancaccio (Palermo), mit der Justiz zusammenzuarbeiten. Er gab an, er sei es gewesen, der den FIAT 126 für das Attentat besorgt habe. Seine Aussagen korrigierten bisher fragliche Elemente in der Rekonstruktion der Ereignisse, Lücken konnten gefüllt werden. Nun war klar, dass Scarantino ein „falscher Kronzeuge“ war und dass damit die bisherigen Ermittlungen und Prozesse in großem Stile manipuliert waren. Als ein zweiter Mafioso von Bedeutung auf die Seite der Justiz wechselte und die Angaben von Spatuzza bestätigte, wurden die Ermittlungen erneut aufgenommen. Die Verurteilungen wurden erst 2017 revidiert.

  1. Der verschwundene Taschenkalender, Zeugen ohne Erinnerung, externe Auftraggeber

 Schon unmittelbar nach dem Attentat gingen die Ermittler davon aus, dass das Attentat zwar von Angehörigen der Cosa Nostra ausgeführt worden war, dass es aber Auftraggeber von außerhalb der Mafia gegeben haben musste. Ermittelt wurde gegen „Alfa“ (für Silvio Berlusconi) und gegen „Beta“ (für seinen engsten Mitarbeiter Marcello Dell’Utri, Anm.9), aber auch gegen sechs Bauunternehmer, über die schon Giovanni Falcone Ermittlungsakten angelegt hatte. (10) Diese Untersuchungen mussten jedoch eingestellt werden (2002 und 2003), weil die Beweise nicht ausreichend waren.

Dann tauchte 2006 aus dem Archiv eines Fotografen ein Foto auf, das unmittelbar nach dem Attentat aufgenommen worden war und einen Capitano der Carabinieri zeigte, wie er sich vom Tatort entfernte, in der Hand die Aktentasche des Richters. In dieser Aktentasche musste Borsellinos roter Taschenkalender gewesen sein, den er stets bei sich trug, um jede Information aufzuzeichnen, die er erhielt. Auch hier wurden Ermittlungen aufgenommen und 2008 ohne konkretes Ergebnis wieder eingestellt.

In Palermo wurde inzwischen der Prozess zur „Trattativa“, zu den Verhandlungen zwischen italienischem Staat und Mafia, vorbereitet. Eine Hauptrolle spielte in diesem Zusammenhang Massimo Ciancimino, der jüngste Sohn des ehemaligen Bürgermeisters von Palermo, Vito Ciancimino (12). Er sagte nicht nur vor den Ermittlern aus, sondern auch im Fernsehen, und so geschah ein kleines Wunder, zwei Politiker erinnerten sich ganz unvermittelt daran, dass Paolo Borsellino von den Verhandlungen, in die Vito Ciancimino und drei hohe Ränge der Carabinieri verwickelt waren, gewusst und absolut dagegen gewesen war. Eine Ergänzung waren schließlich die Aussagen von Kronzeugen, Salvatore Riina habe die geplante Ermordung des Ministers Mannino abgesagt und dafür möglichst bald die Ermordung Borsellinos verlangt, „und zwar auf spektakuläre Weise!“

Kein Wunder also, dass Antimafia-Vertreter beklagen, dass die italienische Politik, um Angehörige ihrer „Kaste“ zu retten, die beiden vorbildlichen Antimafiarichter Giovanni Falcone und Paolo Borsellino geopfert haben.

Anmerkungen:

(1) Sergio Mattarellas Bruder, Piersanti Mattarella, damals Präsident der Region Sizilien, wurde 1980 von der Mafia ermordet.

(2) Ziel des Pools ist, dass alle Mitglieder über alle aktuellen Ermittlungen in gleicher Weise informiert sind, so dass ein Anschlag auf einen einzelnen Antimafia-Ermittler keinen Sinn macht.

(3) Der Maxiprozess ist z.B. laut Italienischer Wikipedia der größte Strafprozess, der jemals in der Welt durchgeführt wurde: Im ersten Prozess waren 475 Mafiosi angeklagt, für die Mitglieder der „cupola“ gab es 19 Mal lebenslänglich und für die anderen Angeklagten 2665 Jahre Gefängnis.

(4) Vor dem Maxiprozess in Palermo endeten Mafia-Prozesse fast immer mit Freisprüchen aus Mangel an Beweisen. Die Mafiosi konnten also davon ausgehen, dass sie für ihre Verbrechen straffrei blieben. Nach den Verurteilungen lag nun die Hoffnung der Mafia auf der dritten und letzten Instanz. Man hoffte, Salvo Lima (s.u.), als Vertreter des Andreotti-Flügels der Democrazia Cristiana in Sizilien, würde es richten.

(5) Andreotti, Salvo Lima und andere Vertreter der Democrazia Cristiana waren in den Augen von Cosa Nostra Verräter, weil sie es nicht geschafft hatten, die Urteile des Maxiprozesses in Freisprüche zu verwandeln.

(6) Er hatte Vorstrafen wegen Raubüberfall, Drogenhandel und Vergewaltigung

(7) Stadt im Innern Siziliens, deren Staatsanwaltschaft wie die von Palermo für ihre Mafia-Ermittlungen bekannt ist.

(8) September 1998

(9) Marcello Dell’Utri wurde in einem eigenen Prozess in dritter Instanz (2014) zu sieben Jahren Haft verurteilt, weil er Verbindungsmann zwischen Cosa Nostra und Silvio Berlusconi war und die Einhaltung der getroffenen Abmachungen garantierte.

(10) Es handelt sich dabei um die Ermittlung „mafia e appalti“ (Mafia und staatliche Bauaufträge), die laut Staatsanwaltschaft mit ein Grund für die Ermordung Falcones gewesen sein könnte, da sie die Verbindung Mafia-Unternehmertum-Staat in den Focus rückte.

(11) Man nimmt an, dass in dem roten Taschenkalender Borsellinos wichtige Informationen zum Attentat gegen Giovanni Falcone und zu den geheimen Verhandlungen zwischen italienischen Staatsvertretern und Cosa Nostra enthalten waren. Salvatore Borsellino, der Bruder des Antimafiarichters, hat eine zivile Antimafia-Bewegung gegründet und sie nach dem verschwundenen Taschenkalender benannt. Dass „jemand“ für das „Verschwinden“ von „gefährlichen“ Informationen sorgt, kam schon häufiger vor: In Falcones Computer wurde das meiste gelöscht, die Wohnung von Riina wurde nach seiner Festnahme neun Tage lang nicht durchsucht, so dass schließlich die Polizei die Wohnung in einem jungfräulichen Zustand vorfand: Sogar die Wände waren frisch gestrichen, nicht zu reden von verschwundenen Aussage- und Abhörprotokollen.

(12) Vito Ciancimino, “Don Vito”, Mafioso aus Corleone, gleichzeitig Politiker der Democrazia Cristiana, 1970 Bürgermeister von Palermo, bot sich 1992 als Vermittler für die Verhandlungen zwischen Cosa Nostra und Vertretern der italienischen Institutionen an. Er starb 2002 in Rom.