Die kriminellen Systeme

Wir alle wissen, dass einer der Gründe, weshalb die Mafia immer seltener Gewalt einsetzt, darin zu suchen ist, dass die „Mafia im freien Markt“ eine immer größere Rolle spielt. Aber noch wichtiger ist, dass es in der Regel nicht mehr nötig ist, auf jemanden zu schießen, man kauft die Leute einfach. Die Korruption ist das bevorzugte Feld, auf dem Tausende von Hochzeiten zwischen den Interessen der Komplizen (collusi) und den Interessen der Mafia gefeiert werden. Inzwischen spricht man davon, dass Mafia Korruption sei, man kann das kaum noch auseinanderhalten.

Aber es gibt im Vergleich zu früher etwas Neues, das höchst interessant ist. Früher war das Verhältnis Mafia und Korruption sozusagen „demokratisch“, d.h. die öffentlichen Ausgaben waren begrenzt, sie wurden horizontal und vertikal über den gesamten Kreislauf von Politik und Institutionen verteilt. Jeder beliebige Bürgermeister, jeder Präsident einer Provinz hatte Geld zum Ausgeben und jeder beliebige Mafioso, egal welcher Position in der Mafia, konnte sich an einen Beamten in der Verwaltung wenden, der die Haushaltskasse verwaltete. Also eine „demokratische“ Korruption.

Heute ist alles anders. Erstens haben wir eine fortschreitende und strukturelle Beschneidung der öffentlichen Ausgaben, die lokalen Ämter sind gezwungen Sozial- und Basis-Leistungen zu kürzen. Wir haben eine „Vertikalisierung“ der Entscheidungsprozesse über die Vergabe von Geldern. Denken wir an den Fall CONSIP, wo eine einzige Dienststelle Ausgaben von Milliarden Euro verwaltet (5).

Wir haben jetzt eine größer gewordene Komplexität der Vorgänge, denken wir nur an die höchst komplexen Verfahren bei der Zuteilung von Geldern der EU. All dies hat die aufzuteilende Torte enorm verkleinert, und während früher die Torte für alle da war, ist sie heute bestimmten Eliten vorbehalten. Wir haben also eine „Elitisierung“ der Korruption, d.h. die ganz großen Geschäfte, mit denen heute viel Geld verdient wird, wie z.B. der Energiesektor, der Sektor der großen Infrastrukturen, die Privatisierung von Wasser – damit werden bald riesige Gewinne gemacht werden, – diese ganz großen Geschäfte werden heute im Innern von Regiekabinen ausgehandelt, zu denen das kleine Volk oder die Mittelschicht der Mafiosi keinen Zugang hat, sondern nur wenige Eliten der „Komplizen“ (Collusi) im Staat und bestimmte Aristokratien in der Mafia.

In der Welt der Mafia bemerkt man eine bestimmte Differenzierung der Organisation, die höchst interessant ist, Der Zugang zu diesen exklusiven Clubs ist nur einigen Eliten in der Mafia erlaubt, einer sorgfältig ausgewählten Zahl von Bossen, die eine doppelte Mitgliedschaft haben: Einerseits haben diese Bosse auch weiterhin eine Rolle an der Spitze der Mafia, z.B. die Bosse der „Kommission“ oder die Bosse an der Spitze der Provinzen, andererseits – und gleichzeitig und im Geheimen, d.h. ohne dass andere Bereiche derselben Mafia-Organisation davon Kenntnis hätten, werden sie Mitglieder in Geschäftskomitees auf höchster Ebene. Und sie haben fast alle eine Eigenschaft: Sie sind Freimaurer.

Es handelt sich dabei um das, was wir jetzt als „kriminelle Systeme“ bezeichnen, diese Geschäftskomitees, zu denen die Eliten der Weiße-Kragen-Leute und die Mafia-Eliten gehören, die von der italienische Presse „cricche, P2 , P4“ (6) usw. genannt werden. Zu ihnen gehören Personen aus verschiedenen Welten: der Politiker, der staatliche Beamte in Führungsposition, der Unternehmer, der Lobbyist, der Banker, also Weiße-Kragen-Komplizen der Mafia, die gleichberechtigt ihre Ressourcen zusammenführen, z.B. politische Einflussmöglichkeiten, Beziehungsnetzwerke, Schlüsselpositionen in Politik und Verwaltung usw.. Und sie haben alle das gleiche Ziel, nämlich schrittweise, gemeinsam und im Geheimen ganze Bereiche der Wirtschaft zu kolonialisieren und große Geschäfte zu machen, zu deren Bewältigung verschiedene Kompetenzen nötig sind. Es handelt sich also um eine neue Form der Kriminalität, die aus dem Zusammenschluss von Eliten unter den Weiße-Kragen-Tätern und Mafia-Eliten entstanden ist. Dieses Phänomen hat schon durch Ermittlungen und Prozess-Urteile seine Bestätigung erfahren.

Hier der Ausschnitt aus einem Abhörprotokoll aus einem Prozess in Kalabrien, in dem einer dieser Superbosse mit einem anderen spricht und feststellt, dass die `Ndrangheta, so wie man sie von früher kennt, am Ende ist, weil heutzutage die Macht bei Eliten auf höchster Ebene liegt.

„Die `Ndrangheta gibt es nicht mehr. Heute gehört die `Ndrangheta zu den Freimaurern und man kann sagen, sie ist den Freimaurern untergeordnet. Die haben aber die gleichen Regeln. Die `Ndrangheta gibt es nicht mehr, es gibt nur noch die Freimaurer. Nur noch ein paar Idioten glauben an die `Ndrangheta. Die echte `Ndrangheta ist nicht mehr das, wovon die Presse oder die Carabinieri reden, man muss sich modernisieren, darf sich nicht an alte Regeln klammern. Die Welt ändert sich, und man muss alles ändern. Heute reden sie von den Freimaurern, morgen werden sie sie P2, P4, P9 nennen.“

Das ist eine Stimme aus dem Innern dieser neuen Welt der Mafia und wir dürfen nicht vergessen, dass schon Salvatore Riina vor den Anschlägen von `92 und `93 eine „Super Cosa“ plante, zu der eine kleine ausgewählte Zahl von Superbossen gehören sollte.
Dies ist ein interessantes Phänomen, denn es spiegelt, was in der Zivilgesellschaft passiert: Die Mittelschicht ist dabei zu verschwinden, der gesamte Reichtum konzentriert sich in den Eliten. Und dann gibt es die große Masse, der nicht die geringste Bedeutung beigemessen wird. Genau das Gleiche passiert bei der Mafia. Die wirklich großen Geschäfte sind den Eliten vorbehalten, die mittlere Ebene der Mafia ist in großen Schwierigkeiten, und das kleine Mafia-Volk widmet sich höchst riskanten Aktionen, was zu einem ständigen „Rein ins Gefängnis – raus aus dem Gefängnis“ führt.

Diese kriminellen Systeme kann man nicht mit den gleichen Maßnahmen behandeln wie die Mafia von früher: Den „Art. 416 bis“ kann man nicht anwenden, weil sie (die im Gesetz formulierte) typische Mafia-Methode nicht mehr einsetzen. Auch den Art. 416 kann man nicht anwenden, weil die „einfache kriminelle Vereinigung“ vorhat, zwei, drei Verbrechen zu begehen, während die kriminellen Systeme das Ziel haben, ganze Bereiche der Wirtschaft unter ihre Kontrolle zu bringen. In der Tat stehen heute die Ermittler vor den neuen Formen der Organisierten Kriminalität sozusagen „in Unterhosen“ da.

Mir fällt hier noch der Dialog mit einem wichtigen Mafiaboss ein, den ich am Ende eines Verhörs in einem Gefängnis in Kanada geführt habe. Der Boss sagte zu mir: „Dottore, Sie müssen bedenken, die Welt ist heute anders als früher. Früher kontrollierte die Politik die Wirtschaft, heute ist es die Wirtschaft, die die Politik regiert. Die Märkte diktieren, was die Regierungen zu tun haben. Und wir sind das schwarze Herz der Wirtschaft, wir sind die Wirtschaft.“

„Folgt der Spur des Geldes – und Ihr trefft auf die Mafia“