Italien: Der Prozess zur trattativa – Ein Staat prozessiert sich selbst


Geschichte des Prozesses: Ilfattoquotidiano

In Palermo hat sich am 16.4. das Gericht zur Beratung der Urteile im Prozess zur trattativa zurückgezogen.

Schon vor zehn Jahren nahmen die Ermittlungen zur Beziehung des italienischen Staates zur Mafia ihren Anfang, der Prozess selber läuft seit 4 Jahren und 11 Monaten und hat viele Einzelheiten und Zusammenhänge ans Licht befördert, dadurch dass einige Politiker urplötzlich sich an Dinge erinnerten, von denen sie zuvor behauptet hatten, sie hätten sie komplett vergessen. Der Prozess hat historische Bedeutung allein durch die Tatsache, dass neben Mafiabossen drei hochrangige Vertreter der Carabinieri und ehemalige Minister auf der Anklagebank sitzen. Ihnen wird vorgeworfen, ein staatliches Gremium bedroht oder erpresst zu haben. Staatsvertreter sollen die Verhandlungen mit Cosa Nostra aufgenommen haben, um die Phase der blutigen Mafia-Attentate zu stoppen. Die Mafia wollte eine Revision der Urteile des Maxiprozesses erreichen, die im Januar 1992 definitiv bestätigt worden waren. Außerdem verlangte sie Reformen bei den Haftbedingungen, vor allem natürlich die Abschaffung des Artikels 41 bis, der Isolationshaft für gefährliche Mafiabosse vorsieht.

Das Gericht sollte jetzt beurteilen, ob diese Verhandlungen von Vertretern der Institutionen mit Cosa Nostra ein Straftatbestand sind.

Der Prozess ist verschiedenen Funktionsträgern der italienischen Politik ein dauernder Stachel im Fleische gewesen, darunter auch dem ehemaligen Staatspräsidenten Giorgio Napolitano, der 1992 Parlamentspräsident gewesen war. Der damalige Innenminister Nicola Mancino, angeklagt wegen Falschaussage, beklagte sich zunächst in den Medien über die Unverschämtheit, dass er in gleicher Weise wie „das Gesocks“ (er meinte die Mafiabosse) behandelt werde, und wandte sich dann um Hilfe an den Hausjuristen des Staatspräsidenten Giorgio Napolitano Ambrosio und an den Präsidenten selbst. Die Staatsanwaltschaft hatte die Telefonate des Angeklagten Mancino abgehört und dann festgestellt, dass am anderen Ende der Leitung der Hausjurist bzw. der Staatspräsident selber zu hören war. Es folgte eine Phase, in der Napolitano alle Hebel in Bewegung setzte, um die Vernichtung dieser Abhörprotokolle durchzusetzen. Und es ist ihm auch gelungen. Der ehemalige Minister Mancino hat jetzt das Schlusswort im Prozess gesprochen. Er gab zu, dass die bisher von ihm stets geleugnete Begegnung mit Paolo Borsellino am 1. Juli 1992 stattgefunden hat und fügte noch hinzu, es wäre wohl besser gewesen, wenn er nicht mit Ambrosio und Napolitano telefoniert hätte.

Lange wurde erbittert gestritten, ob es diese Verhandlungen überhaupt gegeben hat. Und obwohl ein Gericht in Florenz (2011) im Prozess zum Bomben-Attentat bei den Uffizien bestätigt hat, dass die Ermittlungen genau dies ergeben hätten: Es hat die Verhandlungen gegeben, sprachen Nachrichtensprecher und Leitartikler stets von den „angeblichen“ Verhandlungen.

Zwei bekannte Mafia-Experten der Universität Palermo, der Historiker Salvatore Lupo und der Jurist Giovanni Fiandaca, veröffentlichten sogar gemeinsam ein Buch, indem sie den Staatsanwälten des Prozesses eine unsaubere und unwissenschaftliche Rekonstruktion der Ereignisse vorwarfen und behaupteten, es gebe keine Beweise, die trattativa habe es nicht gegeben.

Insgesamt muss man feststellen, dass die überwiegende Mehrheit der italienischen Medien zwei Strategien im Umgang mit dem Prozess verfolgt hat: Entweder das totale Schweigen oder der Versuch, Anklage und Staatsanwälte lächerlich zu machen mit Bezeichnungen wie z.B. „Die trattativa? Ein Schwachsinn von Verrückten“ (una boiata pazzesca).

Ein Porträt des leitenden Staatsanwaltes Di Matteo und seiner schwierigen Situation wurde von einem ausländischern Sender (Aljazeera) gedreht, Vergleichbares in der italienischen Medienlandschaft? Fehlanzeige!

Auch jetzt äußern sich verschiedene Medien äußerst kritisch. Hier zwei Beispiele: Die Zeitung il foglio meint, die Rekonstruktion der Anklage zeichne nur das Bild, das die Öffentlichkeit sowieso glauben wolle.

Und in Panorama liest man, dass das Gericht schwerlich die Arbeit der Ankläger in Frage stellen werde, da sie mit den Namen von Roberto Scarpinato, Antonio Ingroia und Nino Di Matteo verbunden sei – drei Staatsanwälte, die für ihre Antimafia-Ermittlungen und –Prozesse über die Grenzen Italiens hinaus bekannt sind. Der Autor des Artikels wettet abschließend, dass es deshalb eine Verurteilung geben werde. Der zu erwartende Freispruch werde damit an die Richter der zweiten Instanz delegiert.

Übrigens: Die Aufregung um die offenen Fragen, die mit den Attentaten von 92-93 trotz aller Ermittlungen noch verbunden sind, wird sich auch weiter nicht legen. Die Staatsanwaltschaft Florenz hat Ermittlungen gegen Silvio Berlusconi und Marcello Dell’Utri, Mitbegründer der Berlusconi-Partei und seine rechte Hand, wegen der Attentate von 93 wieder aufgenommen: Anlass sind Aussagen des Kronzeugen Spatuzza, der von einem Treffen mit seinem Boss Giuseppe Graviano in Rom berichtet. Graviano sei überglücklich gewesen und habe unter anderem gesagt, dank Dell’Utri habe man ganz Italien in der Hand, und es sei Berlusconi – „der von Canale 5“ (Name eines Fernsehsenders von Berlusconi) gewesen, der ihn um „diesen“ Gefallen gebeten habe. Nun wird untersucht, ob mit „diesem“ Gefallen die Attentate in Mailand, Florenz und Rom von 1993 gemeint waren.

Die Urteile in erster Instanz vom 20.4.2018

In sieben Minuten und 50 Sekunden wurde das Urteil durch den Richter Alfredo Montalto verlesen:

  • Die Verhandlungen (ab dem Jahr 1992) zwischen Cosa Nostra und italienischen Staatsvertretern hat es gegeben
  • Die Verhandlungen wurden von Mafiabossen (Totò Riina, inzwischen verstorben, Bernardo Provenzano, inzwischen verstorben, Antonino Cinà und Leoluca Bagarella) drei hochrangigen Carabinieri (Mario Mori, Antonio Subranni, Giuseppe De Donno) und dem Gründer der (Berlusconi-)Partei Forza Italia (Marcello Dell’Utri) geführt.
  • Während Cosa Nostra Richter wie Giovanni Falcone und Paolo Borsellino und wehrlose Bürger in Florenz und Mailand ermordete, haben Vertreter der Institutionen den Kontakt zu Cosa Nostra gesucht. Dabei sei Marcello Dell’Utri der Verbindungsmann zwischen Mafia und dem Politiker Berlusconi gewesen.
  • Der Vorwurf, ein staatliches Gremium erpresst oder bedroht zu haben, bedeutet, dass Cosa Nostra die damalige Regierung mit der Ankündigung weiterer Bomben und Attentate unter Druck gesetzt und gefordert hat, den Kampf gegen die Mafia zurückzufahren. Diese Drohungen waren gerichtet an die Regierungen der Jahre 92 bis 94, d.h. die Regierungen Amato, Ciampi und Berlusconi.
  • Die Verurteilungen: Die Carabinieri Mori und Subranni bekommen 12 Jahre, das gleiche Strafmaß erhalten der ehemalige Senator Marcello Dell’Utri und der Mafiaboss Cinà; 8 Jahre für den ehemaligen Carabinieri-Kapitän De Donno, 28 Jahre für den Mafiaboss Bagarella.
  • Verjährung für den Mafia-Kronzeugen Giovanni Brusca; der Innenminister des Jahres 1992 Nicola Mancino, der wegen Falschaussage angeklagt war, wird freigesprochen.
  • Einer der Hauptzeugen des Prozesses, Massimo Ciancimino, Sohn und Sekretär seines wegen Mafia verurteilten Vaters Vito Ciancimino, ist wegen übler Nachrede zu 8 Jahren Gefängnis verurteilt.
  • Bagarella, Cinà, Dell’Utri, Mori, Subranni und De Donno sind außerdem zur Zahlung von insgesamt 10 Millionen Euro an den italienischen Ministerrat verurteilt, der ebenfalls als Kläger im Prozess aufgetreten ist…Ilfattoquotidiano

Nach der Verkündigung der Urteile: Die Staatsanwälte widmen den Prozess Giovanni Falcone, Paolo Borsellino und allen unschuldigen Opfern der Mafien und nehmen den Applaus des Publikums entgegen

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