Italien: Finger weg von Gratteri!

In der italienischen Öffentlichkeit ist ein Streit um den Staatsanwalt von Catanzaro Nicola Gratteri und die von ihm organisierte Maxi-Operation „Rinascita-Scott“ gegen die `ndrangheta, gegen mit ihr kooperierende Freimaurer, Politiker, Anwälte und Geschäftsleute entbrannt.

„Alle (aber wirklich alle) wollen Gratteri fertigmachen“. So der Titel eines Artikels von Giulio Cavalli, veröffentlicht auf der Internetplattform fanpage.

Darin berichtet der Autor vom Verhalten der italienischen Medien, die wohl „vergessen“ hätten, die Nachricht von diesem Schlag gegen die kalabrische Mafia auf der ersten Seite zu bringen. Von verschiedenen Seiten werfe man Gratteri „Protagonismo“ vor, d.h. er wolle bloß wieder im Mittelpunkt des Interesses stehen. Cavalli berichtet auch über den Post der PD-Politikerin Bossio: „Gratteri verhaftet halb Kalabrien. Gerechtigkeit? – nö, bloß Show“, einen Post, der als Schlagzeile von einer Zeitung übernommen wurde. Und er empört sich über die „Breitseite“, die der Generalstaatsanwalt von Catanzaro Otello Lupacchini auf einem Berlusconi-Kanal (Mediaset TgCom24) seinem Kollegen verpasst hat: In diesem Interview beklagt sich Lupacchini, dass er erst durch die Medien von der Razzia erfahren habe und   behauptet, dass diese Polizei-Operation wie alle Razzien von Gratteri auf juristisch schwachen Beinen stehe und sich sehr bald in Luft auflösen werde.

Aber: Es gibt auch Gegenstimmen:

Unmittelbar nach der Razzia meldet sich der ehemalige Staatsanwalt von Catanzaro Luigi de Magistris, jetzt Bürgermeister von Neapel, zu Wort, der auf der Liste der Beschuldigten verschiedene Namen von Personen entdeckt hat, gegen die er selber im Rahmen von Korruptionsermittlungen gegen Politiker vor vielen Jahren schon ermittelt hat. Ergebnis damals: Dem Staatsanwalt wurden die Fälle weggenommen, er wurde strafversetzt – die Beschuldigten blieben unbehelligt und konnten weitermachen wie bisher.

Die größte Antimafia-Organisation Italiens Libera ruft die Bevölkerung zu einer Kundgebung vor der Kommandozentrale der Carabinieri in Vibo Valentia auf, und tatsächlich wird diese Kundgebung ein Erfolg: Unter den Demonstranten werden nicht nur besonders viele junge Leute ausgemacht, sondern auch die Bürgermeisterin der Stadt Maria Limardi, sowie Bürgermeister und andere Verwaltungsbeamte aus der Region. Das ist für Kalabrien nicht selbstverständlich: In der Vergangenheit waren im italienischen Staatsfernsehen Berichte von Antimafia-Demonstrationen in Kalabrien zu sehen, bei denen der Reporter der RAI allein mit seinem Mikrofon auf einer leergefegten Piazza zu sehen war.

Die Antimafia-Arbeit, die Nicola Gratteri seit Jahren zusammen mit dem Mafia-Experten Antonio Nicaso an den Schulen leistet, scheint jetzt erste Früchte zu tragen: Eine Abordnung von Schülern aus der Provinz Crotone spricht bei den Carabinieri von Vibo Valentia vor, um sich bei Staatsanwaltschaft und Polizei für den Einsatz zu bedanken.

Und nun bin ich in der Situation, dass ich gar nicht alle bei Google aufgelisteten Dankadressen anführen kann und auswählen muss. Auch bei www.antimafiaduemila.com muss ich auswählen: Ich nenne einen der beiden Artikel zum Thema von Saverio Lodato, weil ich bei ihm den Titel entliehen habe: „Finger weg von Gratteri! Hier wird über die Maßen falsch gespielt, und jeder kann es sehen!“

Und auch im höchsten Gremium der italienischen Justiz, dem CSM, regt sich Protest: Von der Richtergruppe Area wird ein Verfahren gegen den Generalstaatsanwalt Lupacchini und seine Versetzung gefordert, weil sein Fernsehauftritt nicht mit seiner Funktion zu vereinbaren sei. Und gegen die PD-Politikerin soll nach der Neujahrspause ebenfalls ein Verfahren „zum Schutz des Staatsanwalts und der Polizei-Operation Rinascita-Scott“ eingeleitet werden.

Die geschilderten Ereignisse bilden das Ergebnis einer Entwicklung ab, die in den ersten Jahren der Berlusconi-Regierungen begonnen hat: Die Einstellung zur Justiz, zu Richtern und Staatsanwälten. Der damalige Regierungschef Berlusconi begann seinen Kampf gegen die Justiz (vor der er ja wirklich Grund hatte, sich zu fürchten) mit der Demontage der pentiti, der Kronzeugen, schaffte verschiedene Gesetze ab, die seine unternehmerische „Freiheit“ einschränkten (zuerst traf das die Bilanzfälschung, die von da an nur noch so geahndet wurde wie ein Verkehrsdelikt) und ließ die Parlamente Gesetze erlassen, die nur seinen persönlichen Interessen dienten, in Italienisch nennt man das „leggi ad personam“, Gesetze, die für eine einzelne Person gemacht werden.

Dass die italienische Justiz reformbedürftig ist, wird wohl kaum jemand bestreiten. Aber die Einstellung, die Justiz stelle im Allgemeinen ein Hindernis für das freie Schalten und Walten der Politik dar, ist wohl kaum mit der Verfassung vereinbar.

Dann wagen es einige Staatsanwaltschaften, nicht nur gegen den „militärischen Flügel“ der Mafia (1) vorzugehen, sondern auch die Verflechtungen mit der Politik, den Behörden, der Unternehmerschaft, jetzt auch mit den Freimaurer-Orden zu durchleuchten, und die Luft für die mutigen Staatsanwälte wird deutlich dünner. Beispiele: die schon erwähnten Ermittlungen unter De Magistris (2), das Verfahren gegen Marcello Dell’Utri, rechte Hand von Berlusconi (3), der Prozess gegen Giulio Andreotti (4) und schließlich der Prozess zur Trattativa, in dem neben Mafiabossen ehemalige Minister und Vertreter der Carabinieri auf der Anklagebank sitzen (5). Hier spielte der damalige Staatspräsident Giorgio Napolitano eine unrühmliche Rolle: Als Staatspräsident war er gleichzeitig Präsident des CSM, des höchsten Justizgremiums in Italien. In dieser Funktion versuchte er, der Staatsanwaltschaft Palermo den Prozess wegzunehmen und leitete ein Dienstverfahren gegen die federführenden Staatsanwälte ein. Der Höhepunkt dieser Entwicklung war Anfang 2019 ein Korruptionsskandal im CSM (6), bei dem der Versuch unternommen worden war, die Mitglieder dieses Gremiums von Parteipolitikern bestimmen zu lassen.

Wie es weitergeht? Man wird sehen.

  1. Der Ausdruck bezeichnet die Mafiosi, die Attentate organisieren und durchführen, die sozusagen die Drecksarbeit für Auftraggeber aus der Mafia oder aus dem Staat ausführen.
  2. B. die Ermittlung Why not (2007): Gegen De Magistris und den Informatiker Genchi wird deshalb wegen Amtsmissbrauch ermittelt, 2016 werden beide freigesprochen.
  3. Der erste Prozess gegen Dell’Utri beginnt 1997, und endet 2016 nach der Verurteilung in dritter Instanz mit einem europäischen Haftbefehl, auf Grund dessen er vom Libanon an Italien ausgeliefert wird. Dell’Utri wurde 2018 ebenfalls wegen Zusammenarbeit mit der Mafia in erster Instanz des Prozesses zur Trattativa zu 12 Jahren Haft verurteilt.
  4. Interessant ist hier, dass Wikipedia Giulio_Andreotti wiederholt, was in der italienischen Öffentlichkeit ebenfalls ständig wiederholt wird: Dass der Prozess mit einem Freispruch geendet hätte: In Wahrheit bestätigte das Gericht seine Zusammenarbeit mit Cosa Nostra, doch waren die Anklagepunkte zum Zeitpunkt des Urteils verjährt.
  5. Über den Prozess hat w-t-w.org mehrfach berichtet. Im Augenblick wird in Palermo die zweite Instanz verhandelt.
  6. Ilfattoquotidiano.it

„Vor dem Gesetz sind alle gleich“ – „Abgesehen von den Ausnahmen, die von einem Gesetz festgelegt werden“

artemisia-blog