Italien: Geschichte der sog. „Prima Repubblica“(1948-1994) – im Licht der Gerichtsurteile

Manipulation

Ilfattoquotidiano.it

Leicht gekürzter Vortrag von Roberto Scarpinato, Generalstaatsanwalt von Palermo, gehalten am 6.9.2020 anlässlich des jährlichen Kongresses der Zeitung „Il fatto quotidiano“.

Der Vortrag erfolgte im Rahmen der Vorstellung des neuen Buches von Antonio Padellaro: „Das Attentat und das Wunder“, in dem der Autor untersucht, weshalb das von der Mafia vorbereitete Attentat auf das Olympia-Stadion in Rom (23.1.1994) gescheitert ist. Überschriften von mir eingefügt.

Die Anfänge

Giovanni Falcone verwendete den Ausdruck „il gioco grande“, das große Spiel, wenn er vom Kampf um die Macht sprach. Ein Spiel, das in Italien ohne Unterbrechung mit Attentaten und mit Morden gespielt wurde. Der Anschlag auf das Olympia-Stadion sollte das Ende der 1. Republik besiegeln, die enden sollte so wie sie begonnen hatte: mit Blutvergießen. Das erste Attentat, das auf das Konto von Mafia und Staatsvertretern geht, ist das Massaker von Portella della Ginestra am 1. Mai 1947 mit 11 Toten und 27 Schwerverletzten. Die Linke hatte in Sizilien die Regionalwahlen gewonnen, und das feierte man in Piana degli Albanesi, Provinz Palermo. Die Politik findet sofort einen Schuldigen: Salvatore Giuliano und seine Bande (1). Wer nicht sofort verstanden hatte, dass hier die Politik mitverantwortlich war, der konnte es im Lauf weniger Monate verstehen, nachdem mehrere Anschläge mit Maschinengewehren und Bomben auf die Parteibüros erfolgt waren. Man wollte verhindern, dass sich ein Sieg der Linken bei den bevorstehenden Wahlen auf nationaler Ebene wiederholte.

Die Manipulation von Ermittlungen und Prozessen

In keinem anderen europäischen Land hat es eine solche Geschichte von politisch motivierten Attentaten gegeben: Mailand 1969, Peteano 1972, Brescia, Italicus, Bologna usw. bis zu den Anschlägen von `92-`93. All diese Attentate haben einen gemeinsamen Nenner: Die Manipulation der Ermittlungen durch die Geheimdienste mit verschiedenen Techniken: Verschwindenlassen wichtiger Dokumente, von Tatortspuren, die Konstruktion falscher Ermittlungsansätze, die Konstruktion eines falschen Kronzeugen.

Wozu manipuliert man Ermittlungen? Um eine Wahrheit zu verbergen, die man nicht eingestehen kann. Um die Auftraggeber aus der Politik zu schützen, letztendlich um den politischen Zweck zu verheimlichen, der ein anderer ist als der offensichtliche Zweck. All dies trifft auch auf die Anschläge von `92/`93 zu: Es verschwinden essentielle Dokumente. Im Januar `93 wird Riina verhaftet. Als die Durchsuchung seines Verstecks beginnen soll, interveniert der Carabinieri-General Mario Mori: „Es wäre verrückt, die Wohnung sofort zu durchsuchen. Sicherlich kommen bald Bagarella und die anderen Bosse, um die Wohnung leerzuräumen, und dann schnappen wir sie.“(2) Tatsächlich kommen Bagarella und die anderen Bosse und räumen alles leer, natürlich auch den Tresor mit den Dokumenten, sogar die Wände sind frisch gestrichen, um keine DNA-Spuren zu hinterlassen – nur: die Festnahme findet nicht statt.

Die nächste spektakuläre Manipulation ist der Diebstahl des roten Notizbuchs von Paolo Borsellino. Wenige Sekunden nach der Bombenexplosion, zu einem Zeitpunkt, als die Polizei noch nicht einmal sagen kann, was eigentlich passiert ist, sind Geheimdienstleute vor Ort. Sie scheren sich nicht um Tote oder Verletzte, sondern nehmen aus Borsellinos Wagen die Aktentasche mit dem roten Notizbuch (3). Die Aktentasche wird später wieder im ausgebrannten Wagen gefunden, aber ohne das Notizbuch. (4)

Aber das ist nicht alles: In Hinterzimmern wurde ein falscher Kronzeuge konstruiert, Vincenzo Scarantino, der die italienische Justiz jahrelang in die Irre geführt hat, damit die Wahrheit über den Anschlag auf Borsellino ja nicht ans Licht kam. (5)

Und es gibt weitere Beispiele für Manipulationen: z.B. die Ermordung von Bossen, die mit der Justiz zusammenarbeiten und über die Hintermänner in der Politik aussagen wollten, wie Luigi Ilardo oder Antonino Gioè, und sie sind nicht die einzigen!

Weshalb werden Ermittlungen zu Mafia-Attentaten manipuliert?

Eben weil nicht nur Mafiosi dafür verantwortlich sind, sondern weil es da auch andere Schuldige gibt. Es soll unbedingt verhindert werden, dass die Ermittlungen über die Ebene der Cosa Nostra hinausgehen, die die Attentate durchgeführt hat. Aber was steht hinter den Attentaten von 1992 und `93? Klar, da ist die bewaffnete Hand der Mafia, aber da sind auch andere Subjekte aus dem Staat am Werk, die durch die von der Mafia ausgeführten Anschläge eine Destabilisierung der politischen Lage erreichen wollen, um ein Ereignis zu verhindern, das man für ungeheuer wichtig hielt: Das italienische Machtsystem, das während der ganzen 1. Republik im Kontext des Antikommunismus und des internationalen Bipolarismus Straflosigkeit garantierte, und zwar nicht nur für die Mafia, sondern auch für Mitglieder der Geheimloge P2 von Licio Gelli, für Lobbys, für Personen im Staat, die in der Vergangenheit für die Manipulationen gesorgt hatten – jetzt, da das alte System am Zusammenbrechen ist, da sehen all diese Leute ein gemeinsames Schicksal vor sich: Sie befürchten, Parteien der Linken könnten an die Regierung kommen, und das würde bedeuten, dass man mit der Vergangenheit abrechnet und dass es nicht nur das Ende von Totò Riina sein würde, sondern auch das Ende für die Leute der P2, für die Leute von „Gladio“ (6) usw. Und so entdeckt man ein gemeinsames Interesse: eine Hardware von Seiten der Mafia und eine Software von Seiten der Destabilisierungs-Spezialisten und den Experten für die Massenkommunikation, die die zeitliche Abfolge der Attentate und die zu treffenden Orte vorgeben.

Der politische Zweck der Attentate muss geheim bleiben

Dieser politische Zweck wird den meisten Mafiabossen verheimlicht, davon wissen nur Riina, Graviano, Matteo Messina Denaro, Bagarella und andere Bosse, die sich im November 1991 in Enna treffen. Dort wird die Destabilisierungs-Strategie beschlossen, die in zwei Phasen erfolgen soll: zuerst die Phase der Attentate, zu denen sich eine Organisation mit dem Namen „Falange armata“ (7) bekennen soll. Damit sollte ein kollektives Misstrauen in den Staat geschürt werden, den bisherigen Institutionen sollte ihre Legitimität abgesprochen werden. Auf diese Weise sollte der Weg bereitet werden für eine neue politische Kraft, die gerade im Entstehen war und die dann den am Boden liegenden Staat wieder aufrichten und die Regierung übernehmen würde. Und tatsächlich ruft Riina einen Monat später alle Bosse zusammen, spricht von der Rache an Falcone und Borsellino, von der Bestrafung der Politiker, die ihre Versprechen nicht gehalten haben, aber über alles, was in Enna besprochen worden war, sagt er kein Wort. Riina erklärt auch nicht, weshalb Falcone, der zunächst in Rom hätte ermordet werden sollen, weil er dort ohne Leibwächter unterwegs war, jetzt plötzlich in Sizilien sterben soll, unter Umständen, die höchst spezielle technische Kenntnisse verlangten, die das Risiko eines Misslingens mit sich brachten, und er erklärt nicht, weshalb der Anschlag auf Borsellino auf Juli vorverlegt werden soll. Und in der Tat handelte es sich um ein völlig irrationales Vorhaben und total kontraproduktiv für die Interessen der Cosa Nostra: im Juni`92 hatte das Parlament über das sog. Dekret Falcone abgestimmt, das die Einführung der Isolationshaft (der sog. 41bis) auch für Mafiabosse vorsah, und das bis zum 9. August vom Parlament in ein Gesetz umgewandelt werden musste. Und während vor der Ermordung Borsellinos eine Mehrheit von Abgeordneten dieses Gesetz ablehnen wollte – nach dem Attentat am 19. Juli stimmte dann die Mehrheit dafür. Raffaele Ganci, einer der engsten Vertrauten von Riina sagte dazu: „Der (Riina) ist komplett verrückt geworden“. Und Salvatore Cancemi, ein anderer Boss, sagte: „Er verfolgt damit die Interessen anderer. Jetzt Borsellino zu ermorden, ist nicht in unserem Interesse.“

Die Attentate auf dem Festland

Der Höhepunkt der Attentats-Strategie erfolgt nicht zufällig dann, als die Regierung Ciampi das Vertrauen erhält. Die „technische“ Regierung Ciampi ist gedacht als Probelauf einer zukünftigen Regierung der Linken, denn sie ist die erste Regierung, in der drei ehemalige Kommunisten einen Ministerposten innehaben. Das erste Attentat auf dem Festland erfolgt drei Tage nach der Wahl der Regierung Ciampi, im Mai 1993, dann kommt das Attentat von Florenz, dann der Versuch eines Anschlags 100m entfernt von Palazzo Chigi, an den sich praktisch niemand erinnert. In einer kleinen Straße, durch die Ciampi gehen muss, um in sein Büro zu kommen, wird ein mit Dynamit beladenes Auto gefunden. Kein einziger Kronzeuge konnte bisher dazu etwas sagen. Wer ist also dafür verantwortlich? Dann, am 27.7.1993, die Anschläge von Mailand und Rom. Ciampi versteht, dass da ein Staatsstreich vorbereitet wird. Dann gibt es einen Blackout, der alle Telefone der Regierung mehrere Stunden lang lahmlegt und von der Außenwelt isoliert. Man entdeckt, der Stromausfall wurde von einer externen Telefonzentrale ausgelöst, aus einem Gebäude, in dem auch der Sismi ein Büro hat (8). Ciampi macht darauf einen bedeutungsvollen Schritt: Er lässt alle Spitzenleute der Geheimdienste von ihren Posten entfernen, der Verteidigungsminister sorgt für eine Säuberung im Sismi, die 300 Leute betrifft, Admiral Fulci, verantwortlich für die Kontrolle der Geheimdienste, führt eine interne Untersuchung des Sismi durch und stellt fest, dass alle Anrufe, mit denen die „Falange armata“ sich zu den Mafia-Attentaten bekannt hat, aus den außerhalb gelegenen Zentren des Sismi kamen.

Der missglückte Anschlag auf das Olympia-Stadion in Rom

Genau zu dieser Zeit beginnen die Vorbereitungen zum Anschlag auf das Olympia-Stadion, es sollte ja der Gnadenstoß sein, den man dem politischen System verpassen wollte. Es werden Vor-Ort-Besichtigungen durchgeführt. Der neue Stern am Himmel der italienischen Politik befindet sich in der Phase weit fortgeschrittener Vorbereitungen. Doch der Anschlag gelingt nicht. Die Fernbedienung versagt. – Zufall? Padellaro liefert in seinem Buch eine interessante Hypothese: Vielleicht habe ja jemand entschieden, dass sich Graviano mit dem geplanten Anschlag, bei dem Hunderte von Opfern eingerechnet waren, darunter 100 Carabinieri, zu weit vorgewagt hatte, und dass dieses Attentat eben nicht stattfinden sollte. Wenige Tage später, am 27. Januar `94, wird er verhaftet. Einen Tag vorher, am 26. Januar, wird im Fernsehen die Ankunft des neuen Politikers verkündet.

Resümee

Die italienische Öffentlichkeit glaubt, die Serie von Attentaten gehe auf das Konto der üblichen Super-Kriminellen, ob sie Riina oder Provenzano heißen, Leute, die sich auf Italienisch kaum äußern können. Und was wird man in den Geschichtsbüchern lesen? Scarpinato zitiert Balzac: Es gibt zwei Arten von Geschichte. Die erste ist die Geschichte in den Schulbüchern, die stets voller Lügen ist. Die zweite, die tatsächliche Geschichte, ist die, die man nicht erzählen kann, weil sie die politische Macht, die kriminelle Seite der politischen Macht, mit zur Verantwortung zieht. Und was das betrifft, nimmt Italien in Europa den ersten Platz ein. In keinem anderen europäischen Land hat es eine solche Serie von blutigen Attentaten gegeben. Dazu kommt noch die Reihe von Morden an hochrangigen Persönlichkeiten, eine Serie von rätselhaften Selbstmorden. Buchstäblich ein Völkermord, begangen von Mitgliedern einer Führungsschicht, die im Machtspiel systematisch Gewalt eingesetzt hat. Und dieses „große Spiel“, wie Falcone sagt, wird einem großen Teil der italienischen Bevölkerung unbekannt bleiben. Denn auch das Wissen ist beileibe nicht unschuldig, die Konstruktion von Wissen war schon immer Spielplatz für den Kampf um die Macht. Einer der größten Intellektuellen des Westens, der Kardinal Giulio Mazzarino, erinnerte den französischen König immer daran: „Majestät, die Macht erringt man mit Schwertern und Kanonen, man behält sie mit Dogmen und dem Aberglauben.“ Die Verdrehungen und Verfälschungen, was die Macht der Mafia und die großen Verbrechen der italienischen Politik betrifft, – das ist ein Feld, auf dem wir heute leider noch die Verlierer sind.

  1. Salvatore Giuliano: sizilianischer Bandit und Separatist
  2. Im Prozess wurden Mori und der Mitangeklagte freigesprochen, weil die Nichtdurchführung einer Hausdurchsuchung kein strafbares Vergehen sei, allerdings wurde Mori im Prozess zur Trattativa Stato-Mafia in erster Instanz 2018 wegen Erpressung eines staatlichen Gremiums schuldig gesprochen.
  3. Im roten Notizbuch notierte sich der Richter alles, was ihm wichtig erschien, er war nie ohne es unterwegs.
  4. Alles nachzulesen im Urteil zum 4. Prozess Borsellino.
  5. Auf Grund der Aussagen von Scarantino wanderten die falschen Leute ins Gefängnis, so dass der Prozess revidiert und die unschuldig Inhaftierten entschädigt werden mussten.
  6. Eine stay-behind-Organisation, die im Falle eines Einmarsches der Truppen des Warschauer Paktes Guerilla-Operationen und Sabotage-Akte durchführen sollte. Sie ist entstanden aus dem italienischen militärischen Geheimdienst der Nachkriegszeit und dem CIA.
  7. Italienische Terrororganisation
  8. Militärischer Geheimdienst

Der falsche Kronzeuge zum Attentat auf Borsellino, Vincenzo Scarantino